Projekt Nachtleben
Zwischen Daydance und Exzessen bis in die Morgenstunden: Das Luzerner Nachtleben ist immer im Wandel. Doch wie sieht seine Zukunft aus? Wir haben mit wichtigen Playern aus der Szene gesprochen.
01/25/23, 10:00 AM
Alles keine unbekannte Gesichter im Luzerner Nachtleben: Boris Rossi, Ilayda Zeyrek, Raphael Spiess, Philipp Kathriner und Flo Dalton.
Sie hat Club- aber auch Radioerfahrunt: Ilayda Zeyrek. (Foto: zvg)
Es gibt Wochenenden, an denen ich kaum glauben kann, dass diese oder jene Bands/DJs/Performers in unserer kleinen Schweizer Stadt spielen. Und es gibt Wochenenden, wo mir auf schmerzhafte Weise bewusst wird, dass ich eben doch nur in einer kleinen Stadt in der Schweiz wohne. Für elektronische Musik habe ich mich schon früh interessiert. Die ersten Erfahrungen mit Ausgang sind schnell zu Waldpartys und durchzechten Clubnächten eskaliert. Mein erster Job während der Kantizeit war an der Bar eines Clubs. Ich denke, dadurch, dass ich schon sehr früh mit dem Nachtleben in Kontakt gekommen bin, haben mich diese Erlebnisse extrem geprägt und zu der Person gemacht, die ich heute bin.
Ich muss mich mit den Grundsätzen eines Klubs identifizieren können. Für mich heisst das, dass Besucher*innen in erster Linie wegen dem Programm dort sind, dies divers gestaltet ist, Gäst*innen die Grenzen anderer respektieren und die Organisator*innen sich ihrer Verantwortung gegenüber dem Publikum bewusst sind. Wenn zum Beispiel Veranstalter*innen von Trap-Events plötzlich (und unbegründet) mit horrenden Preisen aus dem Publikum jeden letzten Rappen pressen möchten, machen sie ihre Musik für viele unzugänglich und die Szene stirbt aus.
Programmlich ist eine grosse Bandbreite an Musikstilen wichtig. Und die entsprechenden Szenen müssen sich zu organisieren wissen. Punks, Ravers, Rap-Hörer*innen und und und – den Jungen muss die Möglichkeit gegeben werden, sich zusammenzutun und auch schon etablierte Lokale für eine Nacht einzunehmen. Pluspunkt ist, wenn ich drinnen rauchen kann.
«Die Herangehensweise der Jungen unterscheidet sich in einigen Punkten drastisch von derjenigen der vorherigen Generation.»
Ilayda Zeyrek
Clubnächte werden immer mehr zu Events, wo im Vornherein ein gewisses Commitment von einem abverlangt wird. Spontan durch die Gassen ziehen und mal irgendwo reinlaufen, läuft bei Gleichaltrigen nicht mehr. Das sieht man nur schon dadurch, dass in Luzern immer mehr Clubnächte einen Ticket-Vorverkauf haben.
Luzern wird überhaupt nicht zu einer langweiligen Stadt! Ich habe letztens was von einem neuen Club in Emmenbrücke gehört. Es soll der grösste Techno-Club der Zentralschweiz werden. Und im Interview haben die jungen Herren verlauten lassen, dass man bei ihnen doch bitte nur schwarz angezogen kommen soll. Und da Techno auf TikTok auch gerade massiv im Trend ist, rückt garantiert eine neue Generation Clubbetreiber*innen nach. Die Alten müssen halt damit umgehen können, Platz zu machen. Die Herangehensweise der Jungen unterscheidet sich in einigen Punkten drastisch von derjenigen der vorherigen Generation. Das sind aber diejenigen, denen die Clubs gehören. Da können gewisse Konflikte entstehen.
«Ich denke, für die Grösse unserer Stadt sind wir gar nicht so schlecht mit dabei.»
Ilayda Zeyrek
Gerade für diejenigen mit Jahrgang 2002 und darüber war der Start ins Nachtleben durch Covid ausserordentlich speziell. Denn sie wurden genau während der Pandemie 18 und können erst jetzt, mit gut 20, so richtig in den Ausgang gehen. Die Auswirkungen davon spürt man durchaus noch, denke ich. Ich habe aber auch den Eindruck, dass sie sich immer mehr im Nachtleben einbringen.
Das Interesse, Partys zu machen, ist bei allen Generationen vorhanden – die entsprechenden Räume, um dies niederschwellig zu tun, werden jedoch immer rarer. Darin, dass einige Clubs in Sachen Awareness und zeitgemässem Booking noch immer der Zeit hinterherhinken, sieht man, dass das Luzerner Nachtleben ein bisschen veraltet ist. Um die nächste Generation in den Clubs zu halten, muss sich das unbedingt ändern. Aber ich denke, für die Grösse unserer Stadt sind wir gar nicht so schlecht mit dabei.
Ilayda Zeyrek ist 24 Jahre alt und hauptberuflich Programm- und Redaktionsleiterin des Luzerner Jugend- und Kulturradios «3FACH». Seit fünf Jahren legt sie auf und ist Resident im Klub Kegelbahn. 2023 veranstaltet sie dort regelmässig Clubnächte unter dem Namen «interform». Ausserdem ist Ilayda DJ-Coach bei Helvetiarockt.
Nachtleben-Profi Flo Dalton bestimmt das Programm im Klub Kegelbahn. (Foto: Nina Winiger)
Das Luzerner Nachtleben ist ein kleines, sehr überschaubares, oft ganz angenehm kuratiertes Konstrukt, das seit jeher bei allen Veranstalter:innen für regelmässige Fragezeichen und «WTF?!»’s sorgt. Wenn ich mal Zeit zum Ausgang habe und den in LU verbringen will, gibt's selten mehr als eine Alternative … das macht’s eigentlich ganz entspannt und unterbindet das verflixte Club-Hopping. Aber es gibt in Luzern zu wenig Illegales!
Für mich sollte ein guter Club in erster Linie sehr viel (für mich) geilen Sound spielen, am besten gut über Zimmerlautstärke. Er sollte nicht zu riesig sein (300 oder 400 Personen), gutes Bier und Mate zu erschwinglichen Preisen bieten und Trinkwasser für gratis, zudem darf man rauchen. Artists, Staff und vor allem Gäste sollten nach dem Kriterium «lowest possible attitude» ausgesucht werden.
«Es gibt weniger Geduld für Intros und Live-Acts.»
Flo Dalton
Mit den vielen Erlebnissen, die ich in den letzten zehn Jahren in Berlin und Luzern machen durfte, stelle ich keine grundsätzlichen Veränderungen im Ausgangsverhalten fest. Es gibt weniger Geduld für Intros und Live-Acts. Und man kommt eher so für den schnellen Fix (zwei Stunden 150 BPM und dann heim) in den Club und erwartet die Nacht hindurch auch zu jeder Zeit genau das … diese Entwicklung sehe ich aktuell. Geht aber auch wieder vorbei.
Flo Dalton ist Booker im Klub Kegelbahn an der Baselstrasse. Vor Luzern hat er das Berliner Nachtleben unsicher gemacht.
Raphael Spiess hat das Nachtleben in den letzten 20 Jahren aus verschiedenen Perspektiven kennengelernt. (Foto: Franca Pedrazzetti)
Das Luzerner Nachtleben ist im Vergleich zu anderen Schweizer Städten äusserst lebendig und braucht sich bezüglich Vielfalt überhaupt nicht zu verstecken. Ich bin schon mein halbes Leben als Veranstalter, DJ, Musikleiter eines Kulturhauses und noch immer mit derselben Freude wie vor über 20 Jahren unterwegs. Es ist für mich schwer vorstellbar, aus dem Nachtleben zu verschwinden. Ich mag den Umgang mit Menschen, mag es, ihnen im Ausgang eine gute Zeit zu bescheren, sei dies als Gastgeber oder eben auf der Bühne.
Ein guter Club ist seriös geführt und dies nicht nur in finanziellen Belangen. Er erkennt Trends, versucht sich nicht nur im Mainstream, sondern auch in nischigen Sachen und soll Begegnungsort sein. Vor allem aber erkennt man eben einen guten Club auch daran, dass grenzüberschreitendes Verhalten jeglicher Art nicht toleriert wird und Gäst*innen dahingehend auch auf ihre Verantwortung als Besucher*innen hin.
Ein guter Club setzt alles daran, dass sich Besucher*innen in den Räumlichkeiten wohl fühlen können, ohne Angst haben zu müssen, eine negative Erfahrung zu machen. Damit ein Club das junge Publikum halten kann, muss er dieses auf den entsprechenden Plattformen abholen und deren Szene kennen.
«Das Luzerner Nachtleben tut gut daran, die musikalische Vielfalt zu pflegen.»
Raphael Spiess
Meiner Meinung nach sind Öffnungs- und Schliesszeiten von Clubs ein niemals enden wollendes Experiment. Auch wir im Südpol testen diese Zeiten immer mal wieder, merken aber, dass sich bei uns die Besucher*innen meist zwischen 23 Uhr und 06 Uhr im Club aufhalten.
Luzern wird nicht langweilig aufgrund von Schliessungen – im Gegenteil, neue Clubs werden eröffnen, ein neues Festival versucht sich 2023 zu etablieren. In Luzern gibt es viele motivierte Veranstalter*innen, die immer mal wieder für frischen Wind sorgen. Ich freue mich auf die kommende Zeit. Das Luzerner Nachtleben tut gut daran, die musikalische Vielfalt zu pflegen und musikalisch in der Breite zu veranstalten.
Ich denke, dass wir uns mit unseren Streams und unseren «Techno im Sitzen»-Veranstaltungen auch während Corona in den Köpfen des Luzerner Publikums halten konnten. Nach Ende der behördlichen Auflagen war im Publikum wahnsinnig grosse Motivation zu spüren, diesen Umstand konnten wir gut nutzen. Ich glaube aber, dass dies auch in vielen anderen Clubs der Fall war.
Raphael Spiess ist zweifacher Girldad, Musikleiter und Co-Leiter des Kulturhauses Südpol sowie DJ und Producer seit 20 Jahren. Angefangen als Mitbegründer eines lokalen Kulturnetzwerkes, hat er in verschiedenen Clubs und Kulturhäusern in Luzern Veranstaltungen im Dunstkreis von Techno, Baile, Trap, Grime und Electronica veranstaltet, zudem als DJ Kackmusikk jahrelang national sowie international hinter dem DJ-Pult diverser Clubs gewirkt. Er lebt in Luzern.
Philipp Kathriner (links) und Yannick Müller haben dem Luzerner Nachtleben mit dem ROK oft Flügel verliehen. (Foto: zvg)
Yannick: Momentan ist das Luzerner Nachtleben etwas berechenbar, etwas weniger divers. Und trotzdem ist es immer wieder offen für Überraschungen und Innovationen.
Philipp: Die Entwicklung des Nachtleben empfinde ich als sehr rückläufig – Ich glaube, ich habe in den 12 Jahren als Veranstalter noch nie so wenig diverse Angebote im Nachtleben erlebt.
Yannick: Ich denke, dass das Nachtleben einen sehr wichtigen Stellenwert in der ganzen Gesellschaft und Wirtschaft hat. Leute können im Nachleben ihren Alltag vergessen, sich ausleben und neue mentale Energie sammeln für die nächste Woche. Ich denke, dass wir einen sehr wichtigen Ausgleich in einer aufgeladenen Gesellschaft bieten. Zum Beispiel auch mit Daydance-Parties. Die haben sich in den letzten fünf Jahren etabliert und es gibt auch viele Gäste, die wieder gerne früher in den Club kommen und auch etwas früher wieder gehen, um am nächsten Tag nicht den ganzen Tag zu verschlafen.
«Ein kuratiertes Musikprogramm rechtfertigt den Eintritt.»
Philipp Kathriner
Philipp: Ich habe das Gefühl, dass in Luzern das ganz exzessive, bis um 10 Uhr morgens im Club sein, fast komplett verschwunden ist. Ich vermute, dass dies vor allem durch das Verschwinden von Club-Lokalitäten verbunden ist. Dazumal gingen alleine fürs Loft, Casineum, Pravda rund 2000 Personen mehr nach Luzern, um zu feiern.
Yannick: Wir vom ROK-Club verschliessen uns selten vor Neuem und probieren, am Puls der Zeit zu bleiben. Wir schätzen zudem sehr, dass wir langjährige Veranstalter:innen und DJs aufbauen können, die uns treu bleiben und viel zum Erfolg beitragen.
Philipp: Nebst gutem zentralen Standort ist es am Ende auch die Qualität, die uns über lange Zeit zum Erfolg verholfen hat. Qualität und ein kuratiertes Musikprogramm rechtfertigen einen Eintritt.
Yannick: Durch unsere Größe können wir teilweise auch etwas grössere Acts zu uns einladen und da wir schon langjährig mitmischen, genießen wir eine gewisse Strahlkraft, die wir nutzen können. Jedoch würden wir im Alleingang nicht bestehen. Was in der Luzerner Szene abgeht, bestimmt maßgeblich auch das Geschehen bei uns. Ich denke nicht, dass Schliessungen von anderen Lokalitäten einen positiven Impact haben. Zumindest sicher nicht langfristig. Ich würde das weitere Bestehen als positiver für uns einordnen.
Philipp Kathriner leitete den ROK-Club während fünf Jahren und seit Anfang Dezember 2022 ist Yannick Müller Leiter des ROK-Clubs. Beide haben unzählige Stationen im Luzerner Nachtleben hinter sich und waren auch als DJs tätig.
Boris Rossi leitet den Sedel seit beinahe 20 Jahren. (Foto: zvg)
Da ich selbst praktisch an jedem Wochenende im Sedel anwesend bin, ist es für mich nicht ganz einfach, die aktuelle Situation zu beschreiben. Für eine kleine Stadt wie Luzern ist meiner Ansicht nach aber eigentlich viel los. Ich war seit jeher ein Nachtmensch, deshalb lag mir das Nachtleben schon immer sehr am Herzen.
Ein guter Club ist für mich einer, der versucht, einen Freiraum zu schaffen, wo sich Veranstalter:innen und Besucher:innen ausleben und ihre Träume verwirklichen können. Und der sich daran nicht bereichert. In Luzern gibt es viel Austausch zwischen den verschiedenen Häusern und Szenen, das wird für viele spannende Projekte sorgen! Es ist wichtig, dass man sich nicht mit Bewährtem zufrieden gibt, sondern immer wieder Platz für neue Ideen und Strömungen macht.
«Stillstand ist der Tod! Das Nachtleben braucht Bewegung!»
Boris Rossi
Der Sedel ist kulturell ein Felsen in der Brandung. Clubs, Trends sowie Politiker:innen kommen und gehen, der Sedel wird immer da sein und eine Plattform für Neues und Riskantes bieten. Es ist immer noch der Ort, wo junge Veranstalter:innen ihre Projekte ausprobieren können. Manchmal fliegen sie auf die Nase und manchmal entstehen daraus neue Trends. Man muss sich ständig verändern und verbessern, damit es nicht zu einem Stillstand kommt. Stillstand ist nämlich der Tod! Das Nachtleben braucht Bewegung!
Boris Rossi ist Kultur- und Politaktivist und leitet den Sedel-Club seit beinahe 20 Jahren.
Der erste Teil zur Zukunft des Luzerner Nachtlebens findest du hier.