Beruhigt euch mal wieder!
Durch die Freiheitstrychler gerät eine Tradition in Sippenhaft. Wer heute mit Glocken durch die Gassen zieht, wird vorschnell verurteilt. Wo ist das Differenzieren geblieben?
Jana Avanzini — 11/24/21, 06:22 AM
Hier sehen Sie Trychler beim Samichlaus-Einzug im Nidwaldnerischen Beckenried. Ohne politische Hintergründe. (Foto: zVg Tourismusverein Beckenried-Klewenalp)
Die Nasenspitze ist gefroren, die guten Schuhe stehen im Schneepflotsch und die Finger wärmen sich um den heissen Pappbecher. Die ganze Gasse vibriert vom regelmässigen Hin und Her der schweren Glocken, das rhythmische, fast melodische Donnern kommt näher und beginnt Bauch und Brust zu erschüttern, man spürt es noch Minuten nachdem sie vorbeigezogen sind.
Wer damit aufgewachsen ist, wie meine Wenigkeit eines Landeis, wer selbst schon mitgelaufen ist, beinahe tranceartig beim Schreiten in Schwung geraten, Teil des Dröhnens geworden ist, weiss, wie stark es wirkt, wie einend es sich anfühlt. Der schwere, runde Klang, die Fackeln, der Geruch nach verbranntem Holz und Holdrio. Geisslechlepfer und Fackelträger, begleitet von farbigen Geiggeln, die wild hüpfend und mit klingendem Geröll und mit tiefen Knicksen das Münz sammeln. Die Laternen und Iffelen. Man könnte so richtig kitschig werden.
Doch gerade scheint die jahrhundertealte Tradition vom Vertreiben des Winters, der Geister und Dämonen vergessen.
«Trychler sind für mich gestorben!»
ein leicht undifferenzierter Kommentarspalten-Pöbler
«Lächerlich verirrte Geister», «die haben sich alle Rechte verspielt» «Trychler sind für mich gestorben», «Schweizer spielen Ku Klux Klan»! Nie hätte man vor nur wenigen Monaten erwarten können, was heute passiert, wenn man ein Video von trychelnden Mannen auf den sozialen Medien postet. Die Kommentare sind beleidigend, primitiv, begleitet von Wut- und Lachemojis.
Wohlgemerkt: Es handelt sich hier um ein Video von ganz normalen Trychlern in Burdihemden. Keine Schwyzer, keine Freiheitstrychler.
Doch die Stimmung ist offenbar derart aufgeheizt, dass Leute nun auch hier nicht mehr unterscheiden können. Es gibt Schwarz oder Weiss, und Weiss hat keine Überschneidungspunkte mit Schwarz.
Grau? Nie gehört. Trychlen gabs schon vor Corona? Nie gehört. Alle Trychler sind nun im Kollektiv zum Gegner geworden. In der WOZ ist nur noch von «Trychlern» die Rede, wenn es um die Freiheitstrychler geht.
Sollte nicht eigentlich allen klar sein, dass diese nur einen kleinen Bruchteil der Menschen ausmachen, die jährlich an Fasnachts und Chlaus-Veranstaltungen durch die Dörfer ziehen? Oder haben die beinahe nur noch in Züri ansässigen Medienschaffenden und die ganz fies verstädterte Bevölkerung das bereits komplett verdrängt? Jodel ist Wiesenberger-Business in Shanghai, und Heidi ist ein ordinäres Ding – hat Trauffer jedenfalls gesungen. (Würg.)
Ein Graben jedenfalls, wie der Stadt-Land oder Links-Rechts oder Velo-Auto oder Impf-Nichtimpf, hat sich nun auch in der Trychlerszene aufgetan. Die Rede ist von «beschädigtem Brauchtum». Die Einen gehen hart mit den Freiheitstrychlern ins Gericht, die Anderen solidarisieren sich, gehen noch weiter. In den Medien müssen sich die unterschiedlichsten Trychler-Vereine zu den Freiheitstrychlern äussern, sich in offiziellen Mitteilungen, wie der islamische Zentralrat bei islamistischen Anschlägen, distanzieren.
Natürlich sind die Trychler mit ihrer Lautstärke, ihren tellschen Hemden und oft buschigen Bärten die «idealen Kombination, um sich als akustische Freiheitshelden zu inszenieren», sagte der Brauchtumsforscher Werner Bellwald im Tagi.
Tja, muss man da sagen: Es ist halt eine lebendige Tradition, die umdeutbar, veränderbar ist. Genau wie Tell, das Rütli oder das Matterhorn lässt sich natürlich auch das Trycheln instrumentalisieren und für andere Anliegen verwenden. Nicht bloss fürs Verscheuchen der Wintergeister. Und da muss ich gestehen – Asche auf mein Haupt – dass ich ebenfalls sowas getan habe.
Am Frauen*trychle in Stans am vergangenen Weltfrauen*tag des 8. März tatsächlich. Meine Unterarme haben tags darauf ein wenig gelitten. Aber ich verstehe, weshalb man diese Tradition nutzt – es macht Spass, es macht Lärm, und wenn man gemeinsam in den Rhythmus kommt, ist es ganz schön geil. Die Wirkung ist unbestritten, um kraftvoll auch auf andere Anliegen aufmerksam zu machen.
Wir jedoch waren nicht in weissen Burdihemden unterwegs, muss ich hier zur Verteidigung vorbingen. In rot nämlich, und pink und so. Keine Verwechslungsgefahr mit den bärtigen, weissgewandeten Traditionstrychlern.
Vielleicht wäre das eine Idee, um die Gemüter der verwirrten Städter*innen zu beruhigen? Dass die Freiheitstrychler sich ein anderes Outfit besorgen würden. Oder zumindest ein klareres Erkennungszeichen als feingestickte Blümchen sie von anderen Trychlern abgrenzen würde. Ein Aluhut zum Beispiel.
Schublade zu.