Landei versus Stadthuhn
Das eigene Gärtchen hegen und pflegen ist schwierig, wenn die Welt aus den Fugen ist. Warum wir es trotzdem tun? Es ist keine Alternative in Sicht.
Christine Weber — 10/22/20, 01:05 PM
Nicht über den Tellerrand hinausschauen, das eigene Gärtli hegen und pflegen und nichts fressen, was der Bauer oder die Landfrau nicht kennt. Solche Sachen sagen die urbanen Leute über die Landeier. Sie haben recht. Dass es so ist, hat seinen Grund. Wir Landeier können gar nicht anders oder wenn doch, dann nur mit grosser Anstrengung. Das fängt schon an, wenn frühmorgens die Sonne über die Berge lugt, der Geruch nach frischem Gras oder Gülle zum Fenster hineinweht und ein Reh im Morgengrauen an den Salatblättern im Garten zupft. Spielt es da eine Rolle, ob es genügend günstigen Wohnraum gibt, ob Lebensmittel mit einem Ampelsystem gekennzeichnet oder Parkplätze geschaffen oder abgebaut werden? Nein. Den Landeiern sind solche Sachen schnuppe.
Auch ob es ein neues Theaterhaus braucht, die freie Kulturszene gefördert oder im Stich gelassen oder die Bahnhofstrasse autofrei wird oder nicht, interessiert mässig. Hier im hintersten Obwalden sind die Lebensrealitäten und damit die Interessen komplett anders als im städtischen Raum. Daran gewöhnt man sich schnell und Schwupps: Schon schwindet die Empathie mit den Sorgen und Herausforderungen der Stadtbevölkerung, die einem zuvor jahrzehntelang umgetrieben haben. Ob das gut oder schlecht ist sei dahingestellt – vermutlich ist es einfach die Realität.
Hinsichtlich der biodiversen Einwohnerinnen und Einwohnern der Schweiz führt das zwar teils zu Unstimmigkeiten: In der Stadt empört man sich über Touristen, auf dem Land über den Wolf (oder umgekehrt), hier nervt man sich über die Mountainbiker und dort über die Autofahrerinnen (oder umgekehrt). Anders gesagt: In der Schweiz wird stadtauf und landab noch immer auf recht hohem Niveau gejammert und darum kann das – je nach regionaler Betroffenheit – auch mal ignoriert werden.
Ganz anders ist es mit dem Weltgeschehen, das auf verschiedenen Kanälen sowohl durch coole Stadtlofts wie heimelige Landstuben flimmert. Spätestens nach den Nachrichten ist Schluss mit dem eigenen Schweizer-Gärtli auf dem Land: Wie sich über den Kohlkopf im Garten freuen, wenn Kinder von Syrien bis Indien verhungern? Wozu den Sternenhimmel bestaunen, wenn in Beirut gerade die Hafenanlage in die Luft fliegt? Warum ein Bauernhaus bespielen, wenn im Flüchtlingslager Moria zehntausende Menschen den allerletzten Unterschlupf verlieren? Mit welcher Berechtigung das Homeoffice preisen, wenn Millionen keine Arbeit mehr haben. Und so weiter und so fort. Da könnte man glatt das Gartengemüse verfaulen, die Sternschnuppen unbeachtet vorbeirauschen und das Haus verlottern lassen, und fortan deprimiert in den Seilen hängen. Oder den Stecker der diversen Kommunikationsgeräte ziehen, damit das Elend an einem vorbeiflimmert, sodass Kohlkopf und Sterne ungestört in der ländlichen Idylle vor sich hin glänzen können. Selbstverständlich kommen beide Varianten nicht in Frage, und es bleibt der schweizerische Kompromiss: Hinschauen, wegschauen, weitermachen.
Meine Freundin aus Luzern sagt dazu: Es gibt auf der Welt nun mal mehr Hohlköpfe als Kohlköpfe – daran können auch die Landeier mit ihren Bio-Gemüsegärten nichts ändern.
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