Gedanken nach einem Demo-Besuch der Coronaskeptiker.
Anja Nora Schulthess — 06/19/20, 09:02 AM
«Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.» Dieses Kant-Zitat trug ein Demonstrant als Transparent an einer sogenannten «Corona-Demo» in Luzern Ende Mai vor sich her. Okay, Kant sucks, das wissen wir schon lange, tut hier aber nichts zur Sache. Die Frage, die sich in diesem Kontext aber sofort stellt: Was, wenn dieser Demonstrant gar keinen Verstand hat oder einen, sagen wir, prekären?
Derselbe Demonstrant beklagte sich über den fehlenden Diskurs und darüber, dass bestimmte Meinungen in der Öffentlichkeit nicht zugelassen werden. Wir wissen, wer diese «bestimmten Meinungen» unterdrückt: die Lügenpresse, der Mainstream, Freiheits- und Grundrechtsentzug durch die Politik bzw. wie eine Frau auf dem Luzerner Bahnhofplatz in die Kamera sagte: «Der Lockdown war nur dazu da, damit wir nicht auf die Strasse gehen und die Wahrheit sagen.» Und bei dieser Wahrheit sind wir dann nicht mehr weit entfernt von Bill Gates, 5G-Strahlung, Chemtrails, der WHO als Ausmerzungszentrale der Menschheit und natürlich den Juden und den Reptiloiden. Wir wollen das hier nicht alles wiedergeben, wie es derzeit auf allen Netzwerken und Kanälen ausgiebig getan wird.
Interessanter ist das Grundproblem, das sich im vom Corona-Demonstranten annektierten Zitat zeigt. Was verstehen wir unter Begriffen wie «Verstand», «Mut», «Grundrecht», «Freiheit», «freier Meinungsäusserung»? Mit Sicherheit nicht dasselbe. Wir können nun Begriffspolizei spielen und uns mit Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretikern anlegen und streiten, bis uns die Luft und die Argumente wegbleiben. Wer gewisse Grundannahmen nicht teilt (beispielsweise, dass alle Menschen gleich sind und folglich dieselben Rechte haben), kann sich lange an jemandem reiben, der diese Voraussetzung ignoriert. Behauptung steht gegen Behauptung, Moral gegen Moral, Ideal gegen Ideal.
Eine Verschwörungstheoretikerin oder ein Antisemit wird auf jedes Argument ein Gegenargument finden, auf jeden Quellenverweis eine Gegenquelle und auf jeden Beweis einen Gegenbeweis. Wir haben es mit geschlossenen Systemen zu tun: Jede Lücke im System wird geschlossen mit irgendeiner Hilfstheorie. Das Internet wird als frei zugänglicher Gratis-Supermarkt der Ideen genutzt. Wer googelt, der findet immer das, was er gesucht hat. Das ist in der Technik angelegt und so ergoogelt sich jede und jeder seine eigene Wirklichkeit. Und bevor der Gegenseite die Luft ausgeht, wird sie sagen, ich sei ein Reptiloid oder einfach verblendet und infiltriert. Spätestens dann ist die Diskussion beendet.
Nazis, Dinosaurier, Wikinger
Man kann nun behaupten, jeder habe eben seine eigene Weltanschauung, seine eigene Moral, seine eigenen Ideale und dürfe diese jederzeit frei äussern. Zu letzterem: Nein. Punkt. Zu ersterem: Von mir aus, aber manche sind einfach falsch und gehören ignoriert.
Ein weiteres Problem, das sich aus dieser Pseudodiskussion ergibt, ist, dass die Rede und Gegenrede zwischen Verschwörungstheoretikerinnen und Anti-Verschwörungstheoretikern den Diskurs tatsächlich versperrt. Eine gewisse Skepsis gegenüber Medien, Wirtschaft, Politik, den Pharmafirmen und Konzernen wie Google oder Apple ist durchaus angebracht, nur eben aus anderen Gründen und diese gilt es zu benennen. Es ist sehr einfach, das esoterische Geschwurbel als Spinnerei zu denunzieren, es ist einfach, über die Hohle-Erde-Theorie zu lachen – Die Erde ist hohl, der Eingang zu den Hohlräumen befindet sich in der Arktis und in diesen Hohlräumen halten sich Nazis, Dinosaurier und Wikinger auf, haha – und es ist auch einfach, antisemitische Menschen im Netz, geschützt hinter dem eigenen Bildschirm, als Faschistinnen und Faschisten zu beschimpfen.
Selbst die witzige Idee der Berliner Bergpartei (die sich der Absicht verpflichtet hat, «mitglieder einer entpolitisierten spaß/party/kunst-gesellschaft wieder für aktuelle politische entscheidungen zu sensibilisieren. und zwar vor allem mit hilfe von spaß, party und kunst.»), die Hygiene-Demos vor der Volksbühne als Reptiloide verkleidet zu stören, war – so lässt sich aus Berichten und Videos schliessen – weniger spektakulär und lustig als man zunächst vermuten könnte. Vor sehr wenig Publikum demonstrierten rund 20 Personen mit Kartonköpfen und Kostümen gegen die Marginalisierung der Reptiloide. Allerdings mit Schildern, auf denen «Verschwörungsnazis und Spinner» stand, was – mit Verlaub – nicht sehr konsequent ist. Und selbst ohne diese Schilder hätten die «wahren Rebellen» den Aufmarsch schnell entlarvt: Wahre Reptiloiden nämlich kommen nicht in Kartonkostümen daher und wer sie nicht erkennt, ist vermutlich selber eines.
Übrigens: Liebhaberinnen und Liebhabern von Verschwörungstheorien, die diese konsumieren wie Telenovelas, empfehle ich anstelle von Klicks auf einschlägigen Seiten die Lektüre von Sagen und Science-Fiction-Literatur. Internet-Streithähnen, die einen Lustgewinn daraus ziehen, sich in Kommentarspalten mit Verqueren anzulegen, empfehle ich den analogen Nahkampf. So haben wir wenigstens etwas davon.
Anja Nora Schulthess ist Autorin und Kulturwissenschaftlerin. Sie schreibt journalistische Beiträge, Essays, Lyrik und Prosa. 2017 erschien ihr lyrisches Debüt «worthülsen luftlettern dreck». 2020 erscheint ihr Sachbuch zu den Untergrundzeitungen der Zürcher Achtziger Bewegung im Limmat Verlag. Seit Frühling 2020 lebt sie mit ihrem Partner und ihrer Tochter in Luzern.