Verpönte Küche
Das Hirn gilt als verpönteste aller Innereien und landet deshalb nur selten auf Speisekarten. Der Vorsitzende vom Verein zur Förderung des Ansehens der Blut- und Leberwürste hat uns dennoch eines gebraten.
Sylvan Müller — 11/07/22, 09:45 AM
Das Hirn hat in der modernen Küche zu Unrecht einen schlechten Ruf. (Foto: Sylvan Müller)
Schon früh hätte er eine Affinität für Innereien entwickelt, erzählt mir Ivo Knüsel in seiner Küche. Jeweils mittwochs habe seine Mutter Halt gemacht bei der Migros Burgdorf und auf dem Heimweg von der Arbeit Blut- und Leberwürste für die Familie gekauft. Die würden die besten haben, meinte sie. Für Ivo ein Festmahl. Er bricht auch heute noch gerne eine Lanze für die Leberwürste des Grossverteilers, deren Qualität er als unerreicht betrachtet.
Als Vorsitzender «VBL international» steht ihm tatsächlich eine gewisse Kompetenz zu, dies zu beurteilen. VBL steht hier nicht für die Luzerner Verkehrsbetriebe, sondern für den «Verein zur Förderung des Ansehens der Blut- und Leberwürste». Gegründet wurde er 1967 von einigen Studenten, die der Filetfresserei überdrüssig waren und sich darum mit Herz und Seele für die niedrigen Fleischgenüsse einsetzten. Schützenswerte Objekte sahen sie in den Blut- und Leberwürsten. Und in den Rolling Stones. In den ersten Jahren nannten sie sich darum ganz nach ihren Leidenschaften «Verein zur Förderung des Ansehens der Blut- und Leberwürste sowie Rolling Stones Club».
An der legendären Generalversammlung im Jahre 1970 konnten sich dann aber die Wurst-Hardliner durchsetzen und der Passus «sowie die Verehrung der Rolling Stones» im Artikel 2 der Statuten wurde gestrichen. Ivo Knüsel ist seit acht Jahren Vereinsmitglied. Die Mitgliedschaft gelte auf Lebenszeit, ausser man werde zum Vegetarier. Das würde sofortigen Ausschluss bedeuten inklusive einer hinterhergereichten Schandzeile, erzählt der Luzerner und schwenkt die Pfanne. Würste gibt’s heute keine, Ivo kocht Hirn vom Kalb.
Ivo Knüsel ist Vorsitzender des Vereins zur Förderung des Ansehens der Blut- und Leberwürste. (Foto: Sylvan Müller)
Das Hirn von Schlachttieren zählt seit jeher zu den essbaren Innereien und war vor allem dank seinem hohen Fett- und Lecithingehalt als Zutat für streichfähige Kochwurstsorten interessant. Ob sogar die Schweizer Nationalwurst, der Cervelat in seiner Originalrezeptur einen gewissen Anteil Hirn enthalten haben soll, ist umstritten. Zwar lässt ihr Name darauf schliessen – wahrscheinlich ist er vom lateinischen «Cerebellum» (der Verkleinerungsform von «cerebrum», Hirn) abgeleitet. Aber im Gegensatz zur deutschen «Zervelatwurst» lassen sich keine historischen Cervelat-Rezepte mit Hirn als Zutat finden.
Das Hirn fand neben seiner Verwendung in Wurstwaren vor allem in der gehobenen Gastronomie seinen Platz auf den Menükarten. Für einfachere Gaststätten war meist der Aufwand bei der Beschaffung und der Reinigung der Innerei zu gross. Hirn muss nicht nur ausserordentlich frisch sein, es wird vor der Zubereitung aufwändig von unzähligen kleinen Häutchen befreit und stundenlang gewässert, um so von jeglichen Blutresten befreit zu werden.
In Luzern stand Hirn an Kapernsauce lange auf der Karte des Restaurants Rebstock. Da kam auch Ivo Knüsel letztmals in den Genuss der Innerei. «Wir sassen mittags zu zwölft im Rahmen eines Geschäftsessen in der Gaststube bei Claudia Moser. Ich hatte als Einziger Hirn an Kapernsauce bestellt und war schlagartig ganz einsam am Tisch…» Das Hirn scheint in seiner ästhetischen Direktheit von allen Innereien am prägnantesten an die kannibalischen Gelüste unserer Ahnen zu erinnern.
Rinderwahn änderte alles
Anfangs der neunziger Jahre kam die wirklich grosse Innereien-Zäsur: 1990 wurde erstmals ein BSE-Fall bei einem Schweizer Rind diagnostiziert, und die Behörden schlossen wenig später Hirn und Knochenmark von Rindern aus der Lebensmittelkette aus. Sofort liess auch der Konsum von Schweine- und Kalbshirn markant nach.
«Ich war in Kuba, und im Fernseher in der Hotel-Lobby sah ich Kühe über Schweizer Alpwiesen wandern. Wie ich mich freute!» erzählt Ivo Knüsel lachend, während die Hirne in der Pfanne brutzeln. «Mein spanisch war derart schlecht, dass ich mich in erster Linie über die kitschigen Bilder aus der Heimat freute. Dass die Stimme im Off über den Ausbruch einer hochinfektiösen Krankheit erzählte, hat sich mir nicht erschlossen.»
BSE breitete sich rasant aus, und spätestens als feststand, dass die Tierseuche auf den Menschen übergreifen kann und beim Menschen in der Form von Creutzfeld-Jakob auftreten kann, wurden rigorose Massnahmen getroffen: Das Verfüttern von Tiermehl an Wiederkäuer wurde verboten und bis heute wird das Hirn von Rindern in den Schlachthöfen vernichtet.
Mit dem Ausbruch von BSE verschwanden Hirne von der Speisekarte. (Foto: Unsplash)
In der Küche spielt aber vor allem das Kalbshirn eine wesentliche Rolle. Es ist sehr leicht verdaulich und hat einen hohen Anteil an Mineralstoffen. Hirn ist reich an Vitaminen und enthält mit bis zu 3 Gramm pro 100 Gramm das meiste Cholesterin aller Lebensmittel, etwa doppelt so viel wie Eigelb.
Doch weder dies noch das kulinarische Vergnügen scheinen für Gastronomen Argumente zu sein, Hirn wieder vermehrt auf die Karte zu setzen. Das Hirn bleibt eine der verschmähten Innereien. Wer Hirn serviert bekommen möchte, muss weit reisen. Zum Beispiel zu Jacqueline Levy und Michael Matter ins Restaurant zum Bad in Schönenbuch bei Basel nahe der Grenze zu Frankreich. Sie bieten auf Vorbestellung sogar ein komplettes Hirn-Menü an. Zum Snack gibt’s da dann beispielsweise eine Hirnvinaigrette mit Ei auf geröstetem Schwarzbrot, danach ein Rührei mit Hirn und schwarzem Jura-Trüffel oder ein Salat mit gebratenem Kalbshirn und später Hirn an Cognac-Senfsauce oder Hirn im Blätterteig.
Die Beiden verwöhnen ihre Gäste seit 36 Jahren und verwerten seit genau so langer Zeit immer alles vom Tier. Wer ihr 4-Gänger vom Hirn geniessen will, muss sich aber sputen: Das Wirtepaar gibt anfangs Januar nach bald vier Jahrzehnten die Schlüssel ab.
«Wir beim VBL würden sagen: die Munderotik ist gegeben!»
Ivo Knüsel
Ivo Knüsel hilft sich selber und kocht für uns das Kalbs-Hirn daheim in seiner Küche. «Das Gericht im Rebstock hat mich mit den Kapern irgendwie an Königsberger Klopse erinnert.» Und so hantiert er mit Kapern und Sauce, bis er zufrieden nickt. «Sieht zwar aus wie bei Tim Burtons’ Marisanern, schmeckt aber gut!». Mit einer hervorragenden Rösti serviert er die ausserirdischen Hirne und entkorkt einen alten, überirdischen Côtes du Rhône.
Das Fazit des Vorsitzenden «VBL international»: «Die Konsistenz erinnert etwas an Milke, das Hirn hat jedoch etwas weniger Eigengeschmack, vielleicht etwas buttrig, nashornbuttrig meinte ich, die Struktur erinnert visuell etwas an Blumenkohl - aber die Konsistenz - wir beim VBL würden sagen: die Munderotik ist gegeben!»
(Nach Elisabeth Fülscher, 1896 – 1970)
1 Kalbshirn
1 Rüebli, in Stücken
½ Lauch, in Stücken
¼ Sellerieknolle, in Stücken
1 Zwiebel
2 Lorbeerblätter
4 Nelken
8 Pfefferkörner
etwas Salz
etwas Butter
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Vinaigrette:
4 EL Gemüsebouillon, flüssig
4 EL Olivenöl
1-2 EL Zitronensaft
1 Bio-Zitrone, Zesten
1 EL Petersilie, fein gehackt
1 EL Schnittlauch, in feine
Röllchen geschnitten
1 Bundzwiebel, fein gehackt
1 TL Kapern, fein gehackt
etwas Pfeffer
Das Kalbshirn säubern und von den feinen Häutchen oder eventuellen Knochensplittern befreien – das Hirn soll aber nicht zerfallen. Einige Stunden in kaltem Salzwasser im Kühlschrank wässern, dabei das Wasser mehrmals wechseln, bis das Hirn ganz Weiss und ohne Blutresten ist.
Die Zwiebel längs halbieren, auf jeder Seite ein Lorbeerblatt mit Nelken befestigen. Alles Gemüse, die Zwiebelhälften und den Pfeffer in 1 l Wasser zum kochen bringen, leicht salzen, 20 Minuten köcheln lassen.
Das gesäuberte Hirn vorsichtig in den Sud versenken, 10 Minuten vor dem Siedepunkt pochieren, herausheben und abkühlen lassen.
Für die Vinaigrette alle Zutaten mischen. Das Hirn vorsichtig in 1 cm dicke Scheiben schneiden. Butter in einer beschichteten Bratpfanne erhitzen und die Scheiben pro Seite bei mittlerer Hitze ca. 5 Minuten braten, salzen.
Mit der Vinaigrette beträufeln und auf vorgewärmten Tellern als Vorspeise servieren. Dazu passt frisches Baguette.
(Michael Matter, Restaurant zum Bad in Schönenbuch)
1 Kalbshirn
1 EL Butter
2 EL Rahm
2 kleine Bio-Eier
Salz
Pfeffer
Etwas schwarzer Trüffel
2 EL Joghurt
½ Bund glatter Peterli
Das Kalbshirn säubern und von den feinen Häutchen oder eventuellen Knochensplittern befreien – das Hirn soll aber nicht zerfallen. Einige Stunden in kaltem Salzwasser im Kühlschrank wässern, dabei das Wasser mehrmals wechseln, bis das Hirn ganz Weiss und ohne Blutresten ist.
Das gesäuberte Kalbshirn in Butter anbraten und würzen.
Die Eier in wenig Rahm aufschlagen, mit Salz und schwarzem Pfeffer abschmecken und zum „guten Hirn“ in die Pfannen geben. Kurz stocken lassen, schwarze Jura-Trüffel darüber raffeln.
Alles ganz schön heiss mit Joghurt und viel glattem Peterli auffrischen.
Und zum Abschluss der Kolumnen-Serie, Sylvan Müllers Hirn-Rezept:
1 Kalbshirn
200g Panko (japanisches Paniermehl)
200g Mehl
2 Eier
1 Liter Sonnenblumenöl
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Court-bouillon:
750 g Wasser
250g Weisswein
1 Karotte
2 Stangen Lauch
1 Stangen Sellerie
1 große Zwiebel
1 Knoblauchzehe
1 TL Thymian
1 Lorbeerblatt
1 TL Pfefferkörner, angestossen
Schale einer unbehandelten Zitrone
Etwas frische Petersilie
Salz
30-Sekunden-Rauchpaprika-Mayonnaise:
1 frisches Ei (Zimmertemperatur)
100 g Sonnenblumenöl
1 EL Senf
1 Spritzer Zitronensaft
1 Prise Salz
1 Prise Pfeffer
1 TL geräucherter, scharfer Paprika (Pimentón de la vera)
Zubereitung:
Das Kalbshirn säubern und von den feinen Häutchen oder eventuellen Knochensplittern befreien – das Hirn soll aber nicht zerfallen. Einige Stunden in kaltem Salzwasser im Kühlschrank wässern, dabei das Wasser mehrmals wechseln, bis das Hirn ganz Weiss und ohne Blutresten ist.
Für die Court-Bouillon das Gemüse putzen und klein schneiden. Alle Zutaten in einen Topf geben, zum Kochen bringen und etwa 20 Minuten sanft köcheln lassen. Durch ein Sieb abgießen und die Flüssigkeit wieder in den Topf geben, zum Sieden bringen. Das Kalbshirn in die Brühe legen, zirka 10 bis 15 Minuten sanft pochieren und auf Küchenpapier abtropfen lassen.
Für die Mayonnaise alle Zutaten in der genannten Reihenfolge (ganz wichtig: Ei zuerst!) in ein Mixbecher geben. Ein Stabmixer bis zum Boden des Bechers stellen, anschalten und nach einigen Sekunden (wenn die Masse zu emulgieren beginnt) ganz langsam nach oben ziehen. Fertig.
Das pochierte Kalbshirn in mundgerechte Stücke schneiden, leicht Salzen und die Stücke nacheinander im Mehl, im verquirlten Ei und zuletzt im Panko-Paniermehl wenden. In einem Topf 2 Zentimeter Sonnenblumenöl erhitzen. Wenn kleine Brotbrösel im Öl sprudeln, ist es heiss genug. Die panierten Hirn-Stücke im heissen Öl frittieren, mit einer Kelle aus dem Öl heben und auf Küchenpaier abtropfen lassen.
Mit der Rauchpaprika-Mayonnaise servieren.
Infos:
Schlachtfrisches Schweins- oder Kalbshirn gibt’s auf Bestellung bei der Metzgerei Rüttimann in Hildisrieden. ruettimann-metzgerei.ch, 041 460 25 74
Jacqueline Levy und Michael Matter verwöhnen ihre Gäste seit 36 Jahren im Restaurant Bad Schönenbuch. Wer ihr 4-Gänger vom Hirn geniessen will (auf Anmeldung), muss sich sputen: Das Wirtepaar gibt anfangs Januar nach bald vier Jahrzenten die Schlüssel ab.
bad-schoenenbuch.ch, 061 481 13 63
Sylvan Müller fotografiert, schreibt, macht Wein, backt Brot, importiert Austern und teilt seine Leidenschaft für grossartige Lebensmittel in der Jazzkantine Luzern.