Die Predigt
Die Journalistin, Autorin und LGBTQ-Expertin Anna Rosenwasser hat uns mit einer Predigt beehrt. Darin spricht sie über Cancel Culture, das Fehlermachen und Entschuldigungen.
04/24/22, 03:35 PM
Liebe Kirchgemeinde. Okay, nein sorry. Jetzt mal im Ernst: Hoi zäme. Schön, seid ihr hier. Wir haben uns hier heute versammelt für eine Predigt, die sehr wenig mit dem Christentum zu tun hat und sehr viel damit, dass wir uns christlich geprägte Räume zurücknehmen, um sie aufzumachen. Nicht jede Person hier drin ist gleich willkommen in Kirchen (erst recht nicht in Kirchen in der Innerschweiz). Heute sind wir alle willkommen. Ich versprech's euch. Ausser Leute, die gegen Ananas auf Pizza sind. Ich bin ja hier die Predigerin, ich kann das jetzt offiziell predigen: Ananas auf Pizza ist fantastisch. Amen.
So. Nach dieser kurzen Machtdemonstration will ich euch gern erzählen, worum es heute eigentlich gehen soll. Nicht um Ananas. Sondern ums Fehlermachen.Das Thema Fehlermachen ist ja sehr beliebt an Orten wie diesem, mit ganz viel Schuld. Aber ich bin nicht Christin, darum geht es heute nicht um Schuld. Sondern darum, wie wir am besten Fehler machen.
Letzten Mittwoch, halb zehn Uhr morgens, sass ich so an meinem Morgentee und plötzlich klingelt mein Handy. 20 Minuten. (Um halb zehn Uhr morgens. How dare they.) Jedenfalls haben sie mich angefragt für ein Statement zum Thema Cancel Culture. Liebe versammelte Gemeinde, wenn ich jedes Mal ein Zehnernötli erhielte, wenn ich eine Anfrage kriege zum Thema Cancel Culture, dann müsste ich keine Werbung für Datingapps und veganes Poulet mehr machen.
Also: Ich kriege echt oft Anfragen zum Thema Cancel Culture. Ich würde euch an dieser Stelle gern genau erklären, was Cancel Culture ist, aber es ist gar kein genauer Begriff. Sondern ein wütendes Schlagwort. So wie «political correctness». Heutzutage darf man ja nichts mehr sagen, das darf man ja wohl noch sagen, nichts mehr darf man sagen heutzutage, sonst wird man sofort abgecancelt. So lautet der Vorwurf.
Über Cancel Culture wird schon seit Längerem diskutiert. In der Schweiz natürlich mit ein, zwei, fünf Jahren Verspätung. Es sind oft ähnliche Beispiele, die für die Diskussion verwendet werden. Dass eine weisse Musikerin mit Locs, also einer schwarzen Haartradition, von einem Anlass ausgeladen wird. Oder dass ein Komiker weniger Auftritte hat, weil Frauen darüber reden, dass sie von ihm sexualisierte Gewalt erlebt haben. Ein weiteres Beispiel: Letztes Jahr war ich in der Sendung eines Fernsehmoderators zu Gast, ein einstündiges Gespräch –alles sehr erwachsen –, und offiziell gings da nicht um Cancel Culture. Er kam dann aber trotzdem mit Cancel Culture, und zwar mit der Autorin J. K. Rowling, die ja «bloss etwas skeptisch sei gegenüber trans Menschen». Was natürlich Blödsinn ist, denn die Autorin äussert sich schon seit Jahren menschenverachtend gegen trans Menschen. Mit blosser Skepsis hat das nichts zu tun.
Wir sehen also, ab wann etwas als Cancel Culture bezeichnet wird: Dann, wenn mächtige Leute Minderheiten verletzen, zum Beispiel mit rassistischen oder transfeindlichen Entscheidungen. Die entsprechenden Personen reagieren dann gern, indem sie ihre eigenen Befindlichkeiten ins Zentrum stellen, anstatt dass sie auf den Inhalt der Verwürfe eingehen.Es geht bei Cancel Culture also eigentlich um die Frage, wie wir mit Fehlern umgehen. Und darum geht es mir auch. Heute, an diesem Sonntag, in dieser Predigt, und allgemein, immer, jeden Tag.
Denn ja, wir machen jeden Tag Fehler. Sehr grosse und sehr kleine. Ich bin schon aus dem Studium geflogen und hab schon Leute betrogen –und ganz viele andere sehr schlimmen Sachen, die sich nicht reimen. Letzten Monat hab ich zum Beispiel Belugalinsem nur halb so lange gekocht, wie man müsste, und dann hab ich so krasse Bauchschmerzen gekriegt, dass ich im Notfall gelandet bin. Das war auch ein Fehler. Ich wollte schon immer mal in einer Kirche über meine Verdauungsprobleme reden.
So sehr ich mir wünsche, dass niemand betrogen wird und auch niemand halbgekochte Belugalinsen isst, so sehr muss ich anerkennen, dass wir immer Fehler machen werden. Unser Ziel kann es nicht sein, keine Fehler zu machen. Unser Ziel muss es sein, faie und gesund mit Fehlern umzugehen.
Ich hasse Fehler machen. Vor allem, wenn es nicht nur um Belugalinsen und meine Verdauung geht, sondern weitere Menschen trifft und betrifft. Es ist dann sehr verlockend, sich selbst und anderen einzureden, dass der Fehler nicht so schlimm war. Versteht mich nicht falsch, ich bin sehr dafür, dass wir uns nicht die ganze Zeit für alles schuldig fühlenund uns andauernd für alles Unnötige entschuldigen –das ist vor allem eine Spezialität von uns weiblich sozialisierten Menschen. Anstatt dass wir uns für alles schuldig fühlen und entschuldigen, macht es Sinn, uns bewusst zu machen, wo es besonders viel Sinn macht, sichzu entschuldigen. Ist eigentlich ein komisches Wort, «ent-schuldigen», als wären wir danach nicht mehr schuldig. Sind wir natürlich trotzdem. Der Fehler ist ja gemacht, der wird auch durch eine Entschuldigung nicht rückgängig.
Also: Wenn wir einen Fehler machen, sollten wir den Fehler zugeben. Vor uns selbst und auch vor denen, die er betrifft. So zu tun, als wäre ein Fehler eigentlich nicht passiert, ist Bullshit. Darf man das in einer Kirche sagen? Gehe ich in Flammen auf, wenn ich es mehrmals sage? Bullshit. Bullshit. Bullshit.
Okay. Wir gehen also nicht in Flammen auf, wenn wir in einer Kirche Bullshit sagen, und wir gehen auch nicht in Flammen auf, wenn wir zugeben, dass wir einen Fehler gemacht haben. Aber es fühlt sich manchmal so an. Als würden wir in Flammen aufgehen. Zuzugeben, dass wir Scheisse gebaut haben, ist schmerzhaft.
Aber das ist ja dann erst der Anfang. Nicht aus allen, aber aus den meisten Fehlern können wir dazulernen. Und das wär die Idee, Büselis. Dass wir aus den Fehlern, die wir machen, dazulernen. Und dass wir das dann auch gegen aussen tragen, damit nicht nur wir selbst dazulernen, sondern andere auch. Und dass wir damit zeigen, dass jeder Mensch Fehler macht. Um uns allen die Angst zu nehmen vor Fehlern. Wenn wir zu fest Angst haben, Fehler zu machen, dann verpassen wir, was wir alles richtig machen können. Ich wiederhole: Wenn wir zu fest Angst haben, Fehler zu machen, dann verpassen wir, was wir alles richtig machen können.
Natürlich hab ich Angst davor, Fehler zu machen. Aber ich empfinde auch Freude bei der Vorstellung einer Welt, in der wir einander auf Fehler aufmerksam machen können, zusammen dazulernen, einander verzeihen. Verzeihen, darüber ist an diesem Ort sicher schon viel gesagt worden. Ich will trotzdem etwas dazu sagen. Verzeihen, glaube ich, heisst nicht, so zu tun, als wäre ein Fehler nie passiert. (Wir haben ja festgelegt: So zu tun, als wäre ein Fehler nie passiert, ist Bullshit.) Ich glaube, Verzeihen ist das Gegenteil von Rache. Zwar anerkennen, dass ein Fehler passiert ist, aber beschliessen, dass damit gut umgegangen wurde. Beschliessen, dass es für alle gesünder ist, fürschi zu machen anstatt hinderschi, konstruktiv statt destruktiv.
Ich glaube, vor dem Verzeihen darf und soll Wütendsein kommen und Traurigsein und Enttäuschtsein. Das hat alles Platz, wenn Fehler passieren. Aber Wütendsein und Traurigsein und Enttäuschtsein sind alles keine Zustände, in denen man bleiben sollte. Ich stelle mir eher vor, dass wir durch diese Gefühle hindurchgehen wie durch Regen. Unerwünscht und unerwartet, manchmal so lang, bis du nass bis auf die Knochen bist und sich alles unangenehm anfühlt. Dann fühlt sich das noch eine Weile scheisse an. Auch dann, wenn der Regen schon vorbei ist. Weil manche Fehler lange weh tun.
Ich möchte mich für eine Welt einsetzen, in denen wir trotzdem Fehler machen. Trotz diesen beschissenen Gefühlen, trotz der Anstrengung, die es braucht, um Fehler zuzugeben und dazuzulernen. Ich will trotzdem Fehler machen dürfen, und ich will auch den Fehler anderer Leute Platz geben. Sonst kommen wir nicht fürschi. Solidarität heisst, fehlerfreundlich zu sein. Fehlerfreundlich sein heisst, zusammen dazuzulernen. Dazulernen heisst, das Ego hinten anzustellen.
Fuck ey, das Ego hinten anzustellen ist so, so schwierig! Seht euch mal die Leute an, die öffentlich kritisiert werden, wie oft die dann Statements rausgeben, in denen es um ihre eigenen Gefühle geht anstatt um ihre Fehler! Jetzt schweif ich ab, aber erinnert ihr euch an Pinky Gloves? Die Typen, die pinke Gummihandschuhe erfunden haben für Menstruationsprodukte? Leute haben sie für diese Schnapsidee kritisiert –und sie haben geantwortet damit, dass sie ganz gemeine Rückmeldungen erhalten haben, und wie sich ihre Familie bedroht fühlt und wie arm sie sind. Anstatt, dass sie auf den Inhalt eingegangen wären. Pinky Gloves ey. Es war nicht nur ein Fehler, die zu erfinden, nein, die Typen sind dann noch nichtmal schlau umgegangen damit.
Um all das zu tun, also Fehler einzugestehen, braucht es ein Wort, das ich normalerweise viel zu christlich finde, um es auszusprechen. Aber hier kann ich ja: Demut. Im Christentum heisst Demut das Anerkennen der Allmacht Gottes. Ich meine Demut aber eher im Sinne von: Anerkennen, dass es Höheres gibt als unser Ego. Demut ist für mich, das eigene Ego zu überwinden, um wirklich solidarisch zu sein. Um wirklich ehrlich mit sich selbst zu sein und dann so richtig zu handeln, wie es grad geht.
Diese Demut, liebe Kirchgemeinde, diese Demut will ich leben können. Ich will, dass wir alle Fehler machen dürfen, dass wir alle Raum kriegen, aus ihnen zu lernen, und wir dabei alles fühlen dürfen, was wir halt so fühlen, wenn wir Fehler machen. Und dann, liebe Büselis, freuen wir uns. Darüber, dass wir dazulernen. Darüber, dass es noch soviel zu lernen gibt. Und vor allem: Darüber, dass es so so vieles gibt, was wir richtig machen können.
Anna Rosenwasser ist Journalistin, Autorin und LGBTQ-Expertin.