Hilfe für Afghanistan
Sohail Khan flüchtete vor fünf Jahren vor den Taliban. Jetzt will der Luzerner erstmals wieder nach Afghanistan zurückkehren, um der lokalen Bevölkerung zu helfen – und setzt sich dadurch konkreten Gefahren aus.
Jonas Wydler — 08/26/21, 08:26 AM
Sohail Khan sammelt Geld, um der afghanischen Bevölkerung zu helfen. (Fotos: Jonas Wydler)
Sohail Khan wirkt nachdenklich, müde und gleichzeitig voller Tatendrang. Ab und zu kann er sich im Gespräch ein bitteres Lachen nicht verkneifen. So aussichtslos erscheint die Situation in seiner Heimat Afghanistan. Der 28-Jährige weiss, wovon er spricht: Er flüchtete selbst vor fünf Jahren vor den Taliban, liess Familie und Freunde zurück und lebt seither in Luzern.
Khan ist in Luzern vernetzt, als hätte er sein halbes Leben hier verbracht. Er engagiert sich über sein Freiwilligennetzwerk Education for Integration etwa mit dem Sprachkaffee, Computerkursen oder Partys. Dabei bringt er Geflüchtete und Einheimische zusammen und fördert den Austausch.
Nun steht für ihn die Lage im Heimatland im Vordergrund. Khan verfügt über eine F-Bewilligung als vorläufig Aufgenommener und war seit seiner Flucht nicht mehr in Afghanistan. Seit der überfallartigen Machtübernahme der Taliban und der ungewissen Zukunft für viele Zivilisten findet er kaum mehr Schlaf, will helfen, aktiv werden – und erstmals wieder ins Krisengebiet reisen. Dazu sammelt er mit seinem Verein Spenden.
Die Lage in seiner Heimat beschäftigt den 28-Jährigen sehr.
Sohail Khan, die Welt schaut fassungslos nach Afghanistan. Wie ist es dir ergangen in den letzten Tagen?
Es bricht mir das Herz. Die meisten Leute in Afghanistan sind normale Zivilisten und gehören keiner Gruppierung an. Millionen wollen das Land verlassen – Leute, die studiert haben und die Zukunft dieses Lands sind. Wer bleibt dann noch? Ich habe die letzte Woche nie mehr als drei Stunden geschlafen pro Tag. Ich denke die ganze Zeit daran, wie ich Hilfe organisieren kann. Das belastet mich.
Wie beurteilst du die Sicherheitslage im Land?
Es ist das eine, dass die Taliban das Land übernommen haben. Sie versprechen, dass sie Menschenrechte respektieren wollen. Wir haben keine andere Option, als zu hoffen, dass sie zu ihren Worten stehen. Sie sind immerhin nicht so korrupt, wie die Regierung zuvor. Aber das Schlimme ist, dass das Land momentan zusammenbricht. Es ist nicht einfach eine Regierung kollabiert, sondern etliche Organisationen, die sich um Kinder und Familien gekümmert haben, sind weg. Ich sprach gestern mit einer Frau, deren Kind wegen fehlender Ernährung gestorben ist. Das macht mich fassungslos. Vielen Ländern geht es nur noch darum, ihre Leute möglichst schnell aus dem Land zu holen.
Du sammelst derzeit Spenden. Wie ist es möglich, vor Ort zu helfen?
In Kabul und Kandahar kenne ich Leute, denen ich traue. Mit deren Hilfe können wir Familien mit Essen und Trinken versorgen. In anderen Städten wie Kunduz oder Shamal habe ich allerdings keine Kontakte, da klappt es nur über Beziehungen zur afghanischen Community in der Schweiz und Europa, die wiederum Leute vor Ort kennt. Momentan rede ich mit sehr vielen Personen und versuche, Hilfe zu organisieren. Aber ohne Bewilligung der Taliban geht nichts. Ich hoffe auch, dass nicht in zwei Wochen die ganze Welt wieder wegschaut. Jetzt ist wirklich die Zeit, um zu helfen.
Sohail Khan sammelt Spenden für Afghanistan: Über seine Organisation Education for Integration möchte er Familien in Kabul und Kandahar helfen. Hier kannst du ihn dabei unterstützen. |
Und du willst selbst wieder nach Afghanistan reisen. Ist das nicht gefährlich?
Es fehlt momentan so vielen Familien an Trinken, Essen und Unterkünften. Darum will ich den Betroffenen vor Ort helfen zu überleben. Wenn ich eine Bewilligung erhalte, bin ich innerhalb eines Monats in Afghanistan. Klar ist das mit Risiken verbunden, aber ich kenne die Kultur und die Leute dort. Ich arbeite daran, eine Bewilligung zu kriegen, aber das Problem ist, dass es keine offiziellen Anlaufstellen mehr gibt und die Botschaften geschlossen haben.
Wie geht es deiner Familie und deinen Freunden in Afghanistan? Müssen sie sich fürchten?
Meiner Mutter geht es zum Glück gut, sie ist nicht gefährdet. Aber ich weiss nicht, was meine Freunde machen, die im Militär waren. Es ist schwierig, sie zu kontaktieren. Ich hoffe, die Taliban halten Wort und verschonen sie.
«Das Opfer ist einmal mehr das afghanische Volk.»
Hättest du es für möglich gehalten, dass die Taliban innert weniger Tage alle wichtigen Städte überrennen und die Macht im Land an sich reissen?
Ich war sehr überrascht. Eine Mehrheit der Gesellschaft lehnt die Taliban ab, aber ist gleichzeitig müde von der korrupten Regierung unter den USA und der Nato. Diese müssen sich nun eingestehen, dass sie von 30'000 Taliban auf Motorrädern geschlagen wurden. Das Opfer ist einmal mehr das afghanische Volk.
Du bist 28 Jahre alt. Erinnerst du dich an die Zeit vor dem Einmarsch der USA? Als die Taliban bereits an der Macht waren?
An das Regime mit seinen strengen Sharia-Gesetzen erinnere ich mich nicht mehr, aber auch in der Nato-Ära waren viele Gebiete unter Kontrolle der Taliban. Wir wuchsen mit den Taliban auf, einer meiner Onkel war ein General in der Armee in Kandahar und starb bei einem Selbstmordattentat. Ansonsten war meine Familie nicht direkt in den Konflikt involviert. Aber ich engagierte mich stets für die Menschenrechte.
«Das Wichtigste ist für mich als Geflüchteter, dass ich akzeptieren werde.»
Hast du noch Hoffnung für Afghanistan?
Ich hoffe einfach, dass es jetzt friedlich bleibt und keinen Bürgerkrieg gibt. Und dass die Taliban die Menschenrechte respektieren und Anhänger der alten Regierung verschonen. Was sich im Gegensatz zu den Taliban vor 20 Jahren geändert hat: Frauen arbeiten heute beim afghanischen Fernsehen und wir sehen Demonstrationen – das konntest du dir früher nicht mal vorstellen. Bis jetzt scheinen die Taliban mit Frauen an Schulen und Universitäten kein Problem zu haben. Aber es ist schwierig, den Taliban zu trauen, wir wissen nicht, was in einigen Monaten passiert. Das Wichtigste ist, dass die afghanische Nation aufwacht und sich nicht mehr unterdrücken lässt. Niemand kann uns Frieden bringen, wir müssen das selber schaffen. Afghanistan hat nur etwa 30'000 Taliban-Kämpfer, aber 38 Millionen Einwohner.
Kannst du dir vorstellen, jemals wieder in Afghanistan zu leben?
Ich hoffe, dass ich meine Heimat oft besuchen kann. Aber ich habe hier ein neues Leben gestartet mit neuen Freunden, einer Familie und Arbeit. Das Wichtigste ist für mich als Geflüchteter, dass ich akzeptieren werde. Wenn ich über die Schweiz rede, dann immer in der wir-Form. Aber klar, meine Heimat ist Afghanistan, und ich will dem Land helfen, den Krieg hinter sich zu lassen. Dafür werde ich immer zur Verfügung stehen.