Wegen Krieg in der Ukraine
Anton Kuzema ist in Kiew geboren. Heute studiert er in Luzern und ist in der lokalen Theaterszene aktiv. Ein Text über das Aufwachsen in einem ukrainischen Haushalt, Nationalstolz und Landesflaggen auf Instagram.
Anton Kuzema — 03/09/22, 07:20 PM
Anton Kuzema ist in Kiew geboren und in Berlin aufgewachsen. (Fotos: zvg)
Es beginnt ein Invasionskrieg in dem Land, wo ich geboren bin, und ich sitze in Luzern. Wie betroffen bin ich eigentlich? Eine kurze Auseinandersetzung mit mir selbst.
Ich lese die Meldung über die Invasion der Ukraine am Abend des Schmutzigen Donnerstag, quasi im Clownskostüm. Tatsächlich ist es das erste Mal seit Jahren, dass mich eine Schlagzeile wirklich schockiert. Nach etlichen Kriegsmeldungen des vergangenen Jahrzehnts sticht diese heraus. Ob es an meiner Herkunft liegt? Ich weiss nicht.
Ich kam im August 1999 mit meiner Familie aus der Ukraine nach Berlin. Meine einzige Erinnerung aus meinem Geburtsland ist, wie meine Mutter vor einem grauen Plattenbau in Kiew eine Flasche Seifenblasen mit Wasser nachfüllt, die ich als Kleinkind verschüttet hatte. Ein kurzer Fetzen aus den Lebensjahren, an die sich niemand erinnern kann. In Deutschland angekommen, spielt sich der Bezug zu meiner Herkunft vor allem in den eigenen vier Wänden ab.
Lieder für die Diaspora
Mein Vater gibt mir insbesondere durch seine Musik ein Verständnis dafür, wie sich meine Herkunft in den Kulturkreis trägt, in dem ich aufwachse. Er wird in den 00er-Jahren ein bekannter Chansonsänger, indem er den Migrationsstrom der späten 90er-Jahre von Osteuropa nach Deutschland besingt. Das oft verwendete Narrativ des Lebens zwischen zwei Kulturen trifft für die «Russlanddeutschen» den Nerv der Zeit. Sein erster Hit trägt den Titel der Fluglinie von Moskau nach Hannover, die täglich Zehntausenden die Zuwanderung nach Deutschland durch die Änderung des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) ermöglicht.
Heute studiert Kuzema in Luzern und ist in der Theaterszene aktiv.
Im Wohnzimmer meiner Kindheit höre ich täglich Texte darüber, wie meine Geschwister und ich nie ganz die Kultur unserer Eltern, und sie nie ganz diejenige ihrer Kinder verstehen werden. Und mein Vater sollte Recht behalten. Aber trotzdem: Wenn ich gefragt werde, was es bedeutet, in einem ukrainischen Haushalt aufzuwachsen, kann ich nie wirklich klar antworten. Ich habe schliesslich keinen Vergleich. Vielleicht steht mir mein Haushalt dafür rückblickend betrachtet auch zu nahe.
Deutlich leichter wäre es, meinen Verwandten in der Ukraine zu erklären, wie es ist, in Deutschland aufzuwachsen. Scheinbar wirken gesellschaftliche Strukturen für mich durchsichtiger als familiäre Verhältnisse.
Blau-Gelb auf Social Media
Der Krieg weckt starke Emotionen. Auch bei der Luzerner Bevölkerung. Schliesslich wirken alle um mich herum betroffener als sonst. Sicherlich ist dies ein Ausdruck der geographischen Nähe und einer eurozentrischen Gesellschaft. Bestimmt liegt es auch daran, dass diesmal eine Atommacht einen Krieg führt. Vielleicht sind wir dieses Mal auch tatsächlich politisch sensibler geworden. In jedem Fall aber berührt mich die Solidarität mit den Betroffenen stärker als sonst.
Ein Bild von einer Demonstration in Berlin.
Menschen, die mir seit Ewigkeiten nicht geschrieben haben, fragen mich, wie es meiner Familie geht. Ein Stammgast zeigt mir im Restaurant, in dem ich arbeite, stolz ihre blau-gelb lackierten Nägel. Und auch meine sonstige Abneigung gegen schwingende Nationalflaggen bleibt beim Anblick der Bilder der zahlreichen Demonstrationen plötzlich aus. Flaggen sind wohl generell sympathischer, wenn sie nicht von den eigenen Landsleuten geschwungen werden. Selbst die Profilbilder in sozialen Medien mit den themenbezogenen Hintergrundfarben wirken für mich plötzlich nicht mehr selbstdarstellerisch.
Betroffenheit, in welcher Form auch immer, sensibilisiert eben stärker als das blosse Zusehen. Und jetzt gerade scheint sich eine kollektive Betroffenheit zu entwickeln, die nationale Grenzen zu einem ungewöhnlich hohen Masse zu überwinden sucht.
Gegen Nationaldenken
Trotzdem entwickeln sich auch Reaktionen, die am Umgang mit der Situation zweifeln lassen. In der Schweiz wird eine stärkere Armee gefordert, in Deutschland fliessen 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr. Es mag sein, dass das notwendig ist. Trotzdem hat es einen bitteren Beigeschmack, wenn der Bundestag seit langem wieder mit tobendem Applaus durchzogen wird, wenn es darum geht, das Militär zu stärken.
Sollte die Politik nicht demütiger gegenüber der schrecklichen Realität stehen, die diese Entscheidung notwendig gemacht hat: die Zuspitzung eines Krieges in Europa? Sollte auf diese Ankündigung nicht ein Moment des Mitgefühls, anstatt dem des Beifalls folgen? Es ist sicherlich richtig, dass die Nord Stream 2 AG im Kanton Zug geschlossen wird – das Unternehmen, das die Gaspipeline zwischen Russland und Deutschland baut. Trotzdem sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass dort 106 Menschen entlassen werden, die möglicherweise ihre Existenzgrundlage verlieren, während wir das Ereignis bejubeln.
Ich habe mit Russ*innen gesprochen, die sich klar gegen die Entscheidungen des Kremls aussprechen.
Man darf nicht vergessen, dass der Krieg von einer quasi-diktatorischen Regierung durchgeführt wird, die viele Menschen im eigenen Land nicht befürworten. Ich frage mich persönlich durchaus, ob ein internationaler Konflikt wie dieser das Potenzial hat, ein gewisses Nationalgefühl bei mir zu wecken. Gleichzeitig läuft ein solcher Konflikt aber Gefahr, das gesellschaftliche Denken in nationalen Zugehörigkeiten zu verhärten.
Ich habe in den letzten Tagen mit Russ*innen gesprochen, die sich klar gegen die Entscheidungen des Kremls aussprechen und gleichzeitig mit Anfeindungen zu kämpfen haben. Die soziopolitischen Massnahmen gegen die russische Regierung sind sicherlich mehr als notwendig. Doch wir sollten auch reflektiert damit umgehen, unsere Solidarität in Nationalflaggen zu spiegeln. Betroffenheit und Interessenskonflikte kennen keine klaren nationalen Zugehörigkeiten.
Wir sind mehr, als wir denken. Mein Appell gilt einer kollektiven Sensibilität und mein Mitgefühl allen Menschen, die unter dieser unnötigen und schrecklichen Situation leiden. Insbesondere jenen, die nun fliehen müssen oder ihr Leben lassen.
Zur Person Anton Kuzema kam im Sommer 2020 für sein Studium nach Luzern. Nebenher beginnt er einige Tätigkeiten in der Luzerner Theaterlandschaft: Young Ensemble Südpol, am VorAlpentheater und zeitweise am Luzerner Theater. Er arbeitet als freiberuflicher Journalist und ist Co-Redaktionsleiter des Lumos Magazin. |