Tote Munggen und Einbahnverkehr. Anhand dieser Stichworte lässt sich im konservativen Nidwalden ein höchst modernes Phänomen beleuchten: der Shitstorm. Eine Spurensuche durch die digitale Wut in der Urschweiz.
Jana Avanzini — 01/26/21, 12:57 PM
Dies ist die Geschichte der schrecklichsten Shitstorms Nidwaldens. Sie beginnt 2019, handelt von einer toten Murmeltierfamilie sowie einer Einbahnstrasse und verursachte bei Winkelrieds Nachkommen einen kollektiven Wutausbruch von seltener Wucht. Noch nie hat Nidwalden im Netz etwas heftiger beschäftigt.
Für Auswärtige: Im Herbst 2019 wurden auf der Klewenalp sieben Murmeli erschossen. Der dortigen Bergbahnbetreiberin fehlte das Geld, um den Tieren ein artgerechtes Gehege zu bauen und liess sie deswegen vom Wildhüter abschiessen. Kurz zuvor war auch im Tal der Volkszorn ausgebrochen. Während eines Jahres sollte die Strasse durch den Stanser Dorfkern nur in eine Richtung fliessen. Doch der Versuch führte zu Stau und wurde nach einem Tag abgebrochen.
Es war eine Zeit, die von Hundertschaften erbrechender Emojis in den Kommentarspalten und den sogenannt «sozialen» Medien geprägt war, von tränenlachenden und explodierendem-Hirn-Emojis, von Mittelfingern und Totenschädeln. Es gab eigene Hashtags, eigene Gruppen zum Thema, Artikel in verschiedenen Foren und Zeitungen. Private Posts zählten hunderte Kommentare. Anstatt wie Foodporn im letzten Jahrzehnt, fluteten nun Bilder von süssen Munggen und Autos im Stau das Netz.
Sehnsucht nach dem Pranger
Bald setzte die digitale Steinigung ein, weit entfernt von sachlicher Kritik: Ein Pranger für die Klewenalp wurde gefordert, ein Pranger für die Tierschützer, für den Wildhüter, für die Grünen, für die Verkehrsplaner, die zuständige Gemeinderätin. Es wurde vulgär und verletzend. Es gab Boykott-Aufrufe, Beleidigungen und Drohungen. «Ich hoffe, die retur Kutsche kommt!», «Adresse von diesem Schlaukopf bitte. Mache ihm auch einen Einbahn!». Und auch der obligat fremdenfeindliche Whataboutism durfte natürlich nicht fehlen: «Aber ausländische Gäste halb gratis mit der Bahn transportieren.»
Mit dieser Welle der Empörung reihte sich Nidwalden in einen globalen Trend ein – Shitstorms sind an sich ein neueres Phänomen, das jedoch rund um die Welt in verlässlicher Regelmässigkeit grosse Beachtung findet. Bereits 2018 hat Nidwalden in Aussicht gestellt, dass es guten Nährboden für virtuelle Verunglimpfungen bietet. Die kantonale Sicherheitsdirektion geriet ins Kreuzfeuer, weil sie angekündigt hatte, in Buochs zwei, drei Schwäne schiessen zu lassen.
Inzwischen scheint die Urschweizer Volksseele Blut geleckt zu haben. Auch als im vergangenen Sommer Dubler durch seine Verbannung aus den Migrosregalen eine Rassismus-Diskussion auslöste, konnte der umstrittene Süssspeisehersteller auf Rückendeckung aus Nidwalden zählen.
Inkonsequente Wut
Es gibt Themenbereiche, zu denen das Internet besonders gerne heftig reagiert: soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Diskriminierung, die vermeintliche Verkehrs-Diktatur der Linken in bürgerlichen Kantonen – und allen voran Tiere. Geht es um animalische Angelegenheiten, kann der Volkszorn schnell einmal über die Kantonsgrenze hinausschwappen.
So ist die Autorin im Herbst 2019 selbst im tiefsten Aargau auf eines dieser Nidwaldner Trauerspiele gestossen. Es war Winzerfest in Döttingen. Am Tisch nebenan gönnten sich zwei ältere Pärchen gerade Gitzi und Rehschnitzel. Dazu flammt die Diskussion über die Unsäglichkeit der erschossenen Murmeli auf der Klewenalp auf. Einen Bissen Reh und munter wird weiter darüber gestritten, ob denn nun die Tierschützerin, der Wildhüter oder der Geschäftsleiter der Bergbahn der
Teufel in persona seien. Es schien, als sei die gesamte Bevölkerung von Jesus höchstpersönlich zur Rettung von Munggen auserkoren worden.
Was dabei vor lauter selbstgerechter Tierliebe vergessen geht: Nicht wenige dieser Leute pflegen sich mit Munggen-Salbe oder verzehren gelegentlich ein Häsli.
Sündenbock gesucht
Im Fall der Stanser Einbahnstrasse zielte der Zorn des Internets hauptsächlich auf eine Person: Sarah Odermatt, die jüngste Gemeinderätin in der Geschichte des Kantons. Wie fühlt es sich an, vom Onlinemob zum Sündenbock erkoren zu werden? Odermatt bewegt sich kaum auf den sozialen Medien und hat deshalb den gröbsten Teil des Shitstorms schlicht verpasst. Aber dennoch: «Mir wurde Einiges zugetragen und es war unangenehm, zu wissen, dass es dort so abgeht. Ich habe mich dann jedoch bewusst dafür entschieden, es mir nicht anzuschauen», sagt sie heute
darüber.
Auf persönliche Mails – abgesehen von den reinen Beleidigungen – habe sie hingegen geantwortet. Und positive Erfahrungen gemacht. «Ein Mann forderte mich in seiner ersten Mail zum Rücktritt auf. Nach meinen Erklärungen entschuldigte er sich jedoch – er habe im Ärger überreagiert.» Ärger, den Odermatt verstehen kann. Doch er dürfe die Diskussionsbereitschaft nicht verhindern.
Wie es jedoch um den Nidwaldner Debattenbedarf im Internet steht, hat dieses Beispiel mit eindrücklicher Bedenklichkeit gezeigt. Ein Volk von selbsternannten Verkehrsplaner*innen hat es von Beginn an besser gewusst, entlarvten im Netz-Kollektiv Desaster, Dummheit und Egoismus.
Eine Skala der Shitstorms (Entwickelt von Barbara Schwede und Daniel Graf).
Es präsentierte sich eine wohlstandsverwahrloste Spassgesellschaft, die verzweifelt Sündenböcke für die eigene Inkonsequenz zu suchen scheint. Ganz nach Aristoteles’ Willensschwäche: «Ich weiss, was richtig ist, aber ich tue es nicht.» Man hat sich zu grossen Teilen nicht mit dem Versuch der Einbahn auseinandergesetzt und nicht an der Gemeindeversammlung teilgenommen, um jedoch hinterher entrüstet in eine Tastatur-Diarrhö zu verfallen.
Selber Schuld
Bestimmt wurde in beiden Fällen Fehler gemacht. Doch woher kommt die Entwicklung, jemandem, der offensichtlich bereits im Seich ist, mit einer derartigen Häme und angriffiger Überheblichkeit zu begegnen?
Die Schuld für solche Auswüchse nur dem Internet zu geben, scheint etwas zu einfach. Weitere Antworten könnte man in der Geschichte Nidwaldens finden. Beispielsweise in der ausgedünnten Presselandschaft und der Abschaffung der Landsgemeinde im Jahr 1996. Sie wurde mit 7383 gegen 3263 Stimmen beerdigt. Zu aufwendig. Altbacken. Überholt. Obwohl sie die Zusammengehörigkeit gefördert habe, wie stets betont. «Doch viele Leute wollten nicht mehr stundenlang Reden anhören», sagte Alt-Regierungsrat Leo Odermatt. Also wurde der Aufwand für die politische Partizipation
reduziert.
Nun müssen wir also alle um unsere digitale Unschuld bangen. Selbst schuld, könnte man unserer Gesellschaft vorwerfen. Denn Orte, an denen wir den politischen Gegnerinnen und Gegnern ins Gesicht sehen, ihnen zuhören müssen, gibt es kaum noch. Unsere Meinung bilden wir uns aufgrund dramatisch aufgemachter 300-Zeichen-Artikel aus der Gratis-Presse. Die Geduld für Hintergründe und ausführliche Argumente fehlt.
Es scheint die reine Lust am Richten zu dominieren. Das befriedigende Gefühl, vermeintliches Fehlverhalten derer rächen zu können, die es «nicht anders verdient haben». Ein bisschen Sadismus, ein bisschen Voyeurismus, ein bisschen Mittelalter. Als stünden die Sünder wieder wie im Trülli auf der Luzerner Reussbrücke, und wir braven Bürgerinnen dürfen im Vorbeigehen den Käfig anstossen – ein bisschen mitbestrafen und uns moralisch überlegen fühlen.
Die Furcht vor dem Mob
So manche(r), die oder der sich an einem Shitstorm beteiligt, sieht darin offenbar eine neue Möglichkeit, vom Sofa aus «mitmischen» zu können. Wir werfen Forderungen auf unsere Facebook-Wall, «liken» eine «STOPP dem Was-auch-immer» und wähnen uns damit politisch engagiert. Dahinter steht oft die mangelnde Bereitschaft, sich mit etwas auseinander- oder für etwas einzusetzen oder an politischen Prozessen teilzunehmen. Es braucht also mehr Engagement und weniger Hosensack-Psychologie.
Der Nidwaldner Internet-Krieg von 2019 hat Narben hinterlassen. Die Angst vor Shitstorms steckt noch immer in den Knochen. So wollten sich die Klewenalper Bergbahnen nicht zu den Geschehnissen von damals äussern.
Jederzeit könnte ein(e) Wutbürger*in von seinem oder ihrem Sofa aus das Trülli wieder anstossen.
Bitte nicht.