Bildbetrachtung
Unser Protagonist ist einmal in den Ligurien-Ferien versehentlich ohne Lektüre aufs Klo gegangen. Da hat er eben sein Portemonnaie hervorgeholt und eine halbe Stunde lang die Kassenzettel gelesen.
Christov Rolla — 05/27/21, 11:32 AM
Ich mag es, die WC-Tür hinter mir zu schliessen. Denn dann weiss ich: Jetzt habe ich für ein Weilchen meine Ruhe. Also, es ist überhaupt nicht so, dass Steffi dauernd etwas von mir möchte oder unangenehm mitteilungsbedürftig wäre. Eher im Gegenteil. Wir sind über die Jahre recht gut darin geworden, auf angenehme Art aneinander vorbei zu leben. Oder sagen wir lieber: Auch mal ein bisschen ein eigenes Leben zu haben. Wir finden das wichtig für uns! Vor allem Steffi. Ich aber schon auch.
Insbesondere seit unsere Töchter aus dem Haus sind, haben wir uns vom Zwang befreit, ständig voneinander wissen zu müssen – oder eher: wissen zu müssen zu meinen –, wer gerade wo ist und was macht. Ob ich jetzt mit Rolf und Remo auf ein Bierli oder mit Sämi in der Werkstatt – das ist ja eigentlich egal für die Beziehung. Oder ob Steffi gestern jetzt mit Caro im Kino oder mit den Karibu-Weibern (ihr Ausdruck, nicht meiner!) am interkulturellen Znacht oder mit ihrem neuen Sprachtandem, diesem Fabian, im Spanischkurs. Da muss ich ja streng genommen wirklich nicht immer alles wissen.
Manchmal erzählen wir uns zwar durchaus von unseren Erlebnissen, und das sind dann immer besonders schöne Momente. Aber meistens schläft der eine von uns schon, wenn die andere nach Hause kommt, und dann gibt’s vielleicht noch einen Kuss auf die bettwarme Stirn, aber gross reden tun wir dann nicht mehr.
Auf dem WC aber: Ruhe. Kontemplation. Versenkung. Mein Rekord sind zweieinhalb Stunden.
Jetzt muss ich vielleicht erklären, warum ich das Alleinsein auf dem WC so schätze, wenn Steffi mich doch gar nicht so fest in Beschlag nimmt. Angefangen hat es natürlich in der Tat, als noch viel mehr Trubel bei uns war, mit der einen Tochter in der Pubertät, mit der anderen noch schlimmer in der Pubertät, mit einer Steffi, die in der heilpädagogischen Zusatzausbildung steckte und gleichzeitig mit dem Konstrukt der Monogamie zu hadern begann, und mir ging es auch nicht besonders gut. Umstrukturierungen in der Bude, das Zerwürfnis mit Beat wegen dem Hüsli im Elsass, die nagende Frage, ob es das jetzt war oder ob nach zwanzig Jahren als Maschinenbauingenieur vielleicht noch mal was Neues kommt, etwas mit Unternehmensberatung vielleicht oder die eigene Beiz, oder wenigstens die Harley, und dann fragst du dich, ob du dich jetzt wirklich und wahrhaftig mitten in dieses Harleyklischee hineingelebt hast, und dann überlegst du panisch, ob du jetzt für ein bisschen Distinktionsgewinn noch schnell umsteigen kannst vom Harleywunsch auf einen Hondawunsch, und dann siehst du im Spiegel, dass Steffi leider recht hatte mit dem Haaransatz – dann braucht es nur noch eine verstopfte Waschmaschine, oder einen Anruf von Sophies Schulleiterin wegen schon wieder einer gefälschten Unterschrift, und voilà: Dann bist du plötzlich wahnsinnig froh um ein bisschen Privatsphäre auf dem Abort.
Und diese kleine Insel der Ruhe, ich möchte fast sagen: der Glückseligkeit, ist mir bis heute wichtig geblieben, auch wenn es in unserer Wohnung mittlerweile recht still geworden ist. Weil es kommt dazu: Ich kann mich nirgends so gut konzentrieren wie auf dem Klo. In der Küche, im Keller, im Bett: Kaum habe ich etwas angefangen, muss ich schnell was googeln, muss ich schnell die To-do-Liste checken, muss ich schnell die Teetasse wegräumen, muss ich schnell die lockere Schraube an der Flurschränkchentüre nachziehen, muss ich mich schnell fragen, wo Steffi wohl steckt, muss ich schnell ein bisschen aus dem Fenster gucken, muss ich, muss ich, muss ich.
Auf dem WC aber: Ruhe. Kontemplation. Versenkung.
Mein Rekord sind zweieinhalb Stunden.
Auf dem WC ist es ja der Normalzustand, dass du alleine bist, so quasi auf Tuchfühlung mit dir selber.
Ich habe gemerkt: Auf dem Klo ist so gut wie jede Lektüre bereichernd. Sei es die neueste Ausgabe von Bikes & Boliden, sei es die Barni-Post, sei es das Abstimmungsbüchlein: Alles interessant! Sogar Gebrauchsanleitungen oder medizinische Beipackzettel oder was alles auf den Tuben und Gläschen und Töpfchen von Steffi hintendrauf steht. Das ist schon fast ein bisschen ein Primärbedürfnis für mich geworden. Einmal, in den Ligurien-Ferien, bin ich versehentlich ohne Lektüre aufs Klo gegangen. Da habe ich mein Portemonnaie hervorgeholt und eine halbe Stunde lang die Kassenzettel gelesen. Und anschliessend die Informationen auf den Kreditkarten, der ID und dem Rega-Gönnerausweis.
Aber manchmal lasse ich auch sinken, was ich gerade lese, und es denkt von selber mit mir weiter. Und dann kommt halt schon auch ab und zu der Gedanke mit dem Alleinsein.
Dass es zwei verschiedene Arten von Alleinsein gibt. Das Alleinsein auf dem WC, und das Alleinsein in der übrigen Wohnung.
Weil: Auf dem WC ist es ja der Normalzustand, dass du alleine bist, so quasi auf Tuchfühlung mit dir selber. Man ist sich selbst genug. Nichts fehlt. Es ist ein schönes und ausgefülltes Alleinsein. Ein Für-sich-Sein im wahrsten Sinne des Wortes.
In der übrigen Wohnung ist mein Alleinsein ein anderes. Dort ist es ein Alleinsein, das von einer Abwesenheit geprägt wird und durch eine ständige Lücke definiert ist. Wo es eigentlich ein Für-einander-Sein geben müsste und das Für-sich-Sein plötzlich ein bisschen bitter wird. Dann tigere ich herum, weil ich Steffis Wegsein kaum aushalte, und bin froh, wenn ich wieder aufs Häuschen muss.
Und immer öfter geht es mir auch so, wenn Steffi zuhause ist.
Ich glaube, ich muss jetzt dann doch einmal nachfragen wegen diesem Sprachtandem.
# Christov Rolla ist eigentlich Musiker. Für diese Kolumne aber versetzt er sich in Menschen und an Orte. Manche bezeichnen dies als Rollenprosa, andere als redselige, ausschweifende und komplett herbeifabulierte Selbstgespräche. Wir nennen es: Bildbetrachtung. Mit freundlicher Unterstützung der Kulturförderung des Kantons Luzern.