In Deutschland verbreiten Rapper Verschwörungstheorien. Und auch in der Schweiz sind in Hip-Hop und Rap die Voraussetzungen da, die krude Mythen begünstigen können, sagt der Luzerner Rap-Kenner Pablo Vögtli.
Ronnie Zumbühl — 08/10/20, 09:44 AM
Sido tuts. Kollegah tuts. Azzi Memo tuts. Sie alle verbreiten gefährliche Verschwörungsmythen. Sie alle sind Rapper. Rapper sind Verschwörungstheoretiker. Halt. Stopp.
Beinahe wäre ich einer Verschwörungstheorie über die Verbreitung von Verschwörungstheorien verfallen. So einfach ginge das. So einfach falsch. Oder um es in den Worten des Deutsch-Rappers Fatoni zu sagen:
«Ich wünschte, es würde so einfach sein Einfach einfach sein, aber Nein Nein Nein Nein Nein Nein»
Fatoni, Deutscher Rapper
Fatonis Song «Nein Nein Nein Nein Nein Nein» ist ziemlich klug gemacht und entlarvend. Er sagt darin: Ja, im Rap gibt es ein Problem mit Verschwörungstheorien und es ist verlockend, einfache Denkmuster zu übernehmen. Gleichzeitig bezieht er eine klare Position zum Thema und zeigt damit, dass im Deutsch-Rap eben nicht alle kruden Mythen verfallen oder sie zumindest nicht gleichgültig hinnehmen.
Ich musste an dieses Lied denken, als Sido Anfang Mai 2020 in einem Youtube-Interview mit dem Rapper Ali Bumaye Verschwörungsmythen verbreitete. Als sie gemeinsam erörterten, wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt gestorben sei, sagte Sido zum Beispiel: «Vielleicht hat er Kinderblut getrunken.» Dies ist eine Anspielung auf einen Mythos der rechten Verschwörungssekte QAnon, der besagt, dass «die Elite» Kinder entführt, um zwecks Lebensverlängerung ihr Blut zu trinken. Ein weiterer prominenter Anhänger dieser «Theorie» ist Xavier Naidoo. Deutsche Medien berichten immer wieder über Verschwörungstheorien im Deutschen Rap. Nicht nur die oben erwähnten Rapper tun es – die Liste ist sehr lang.
«Wir werden zum Teil wie in einer Diktatur behandelt»
Im Schweizer Hip-Hop ist das Thema Verschwörungstheorie kaum wahrnehmbar. Aber es gibt Ausreisser, wie sich an der letzten Corona-Demo Ende Juni zeigte, wo sich auch Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungsmythen tummelten. Dort trat ein gewisser Joey J auf, der in Bernerdialekt rappte, dass die Schweiz eine Diktatur und Meinungsfreiheit «nicht mehr als nur ein Wort» sei – womit er ja eigentlich gleich sich selbst widerlegte. Als ich mich bei ihm per Mail melde und sage, dass diese Aussagen beide falsch seien, entgegnet er: «Das ist meine Meinung. So wie ich das sehe, werden wir Bürger zum Teil wie in einer Diktatur behandelt.» Rap sei für ihn ein Instrument, um seine Gedanken mit anderen zu teilen. «Ich bin weder politisch aktiv noch ist dies das Ziel meiner Texte.» Joey J schreibt seit fünf Jahren Rap-Texte. Der Song «Wo isch üsi Freiheit», den er an der Corona-Demo performte, ist sein erstes Release.
Während meiner Recherche musste ich auch an eine Begegnung mit einem Nidwaldner Rapper vor rund zehn Jahren denken. Er legte mir damals den Kopp Verlag aus Deutschland nahe, als wir über Journalismus sprachen. Ein Verlag, der Bücher publiziert mit Titeln wie «EMF – elektromagnetische Felder» oder «Das Wörterbuch der Lügenpresse». Und «Leckeres aus dem Eintopfofen». Nein, danke.
Lieber treffe ich mich auf ein Caffè Freddo mit dem Luzerner Rapper Pablo Vögtli. Als langjähriger Moderator der Hip-Hop-Sendung «Bounce» auf SRF-Virus kennt er sich in der CH-Rap-Szene bestens aus.
Pablo Vögtli, sind Verschwörungsmythen im CH-Rap ein Problem?
In der Schweiz habe ich bisher noch keine Verschwörungstheorien von wahrnehmbaren Rapperinnen oder Rappern gehört. Einen oder zwei Rap-Songs dieser Art findet man auf Youtube, aber die haben vielleicht 1000 Views. Und mit 1000, 2000 Views findet man dort alles – Extremismus in jeder Form.
Wieso ist das in der Schweiz kaum ein Thema?
Ich glaube, die CH-Rapszene ist sehr klein und selbstregulierend – man kennt sich und weist darauf hin, wenn jemand Scheisse erzählt. Aber wir sind nicht davon befreit: Der Comedian Gabirano verbreitet die schlimmsten Verschwörungstheorien. Und er ist der Rap-Szene im weitesten Sinne angegliedert.
Was entgegnest du einem Verschwörungstheoretiker?
Ich kenne viele Leute, die sagen, sie wüssten nicht, welchen Medien sie vertrauen sollen. Ich entgegne dann: per default mal deinem Staat, wieso nicht? Klar, jede Informationsstelle ist irgendwie biased und will etwas auf eine gewisse Art präsentieren. Aber dem Schweizer Staat, einem ultra-demokratischen Land, sollte man doch vertrauen können. Dort ist mehr dabei als bei einem Doktor Blogspot ät Hueresohn, sorry.
Ich habe dir im Vorfeld ein Rap-Video von einem gewissen Joey J geschickt, der an einer Corona-Demo auftrat. Kennst du ihn?
Habe noch nie von dem gehört. Mit 1000 Youtube-Views wird er wohl auch kaum wahrgenommen. Ich will damit nicht sagen, dass das harmlos ist, was er verbreitet – das ist schon scheisse.
Aber «scheisse» ist ja auch, dass jemand auf diese Weise Rap vereinnahmt.
Da stellt sich dann die Frage, ob nur Leute mit der korrekten moralischen Einstellung rappen dürfen. Ich finde, alle dürfen rappen – es ist ein bisschen wie mit der Meinungsfreiheit.
Würdest du so jemanden zu dir in die Sendung einladen?
Nein. Weil es nicht guter Rap ist. Glücklicherweise stand ich noch nie vor dem Dilemma, jemanden quasi einladen zu müssen, weil er technisch brilliert, gleichzeitig aber ein SVP-Mindset hat.
Pablo Vögtli.
Die Aussage des Rappers Joey J, dass die Schweiz eine Diktatur sei, ist per se noch kein Verschwörungsmythos. Falsche Behauptungen, Generalisierungen und Vereinfachungen können jedoch Grundsteine für Verschwörungstheorien legen. Damit ich an «die Kinderblut trinkende Elite» glauben kann, muss ich erstmal generalisierend «die Elite» ausmachen können.
Solche Grundsteine sind auch im CH-Rap vorhanden. Hinweise darauf liefert Aron Hürlimann in seiner Masterarbeit «Politischer Deutschschweizer Mundart-Rap», die er vor zwei Jahren verfasst hat. Dabei hat er rund 500 Schweizer Rap-Songs aus den Albumcharts 2016 auf ihre politischen Inhalte abgeklopft und dabei untersucht, wie sich Rapperinnen und Rapper zum Thema Staat äussern. Die meisten Zeilen mit dem Wort Staat waren eher negativ konnotiert. «Ich habe festgestellt, dass das Unten-Oben-Schema ziemlich verbreitet ist», sagt Hürlimann.
Vereinfacht gesagt: hier das gute, aufgeklärte und unterjochte lyrische Ich, dort der böse, unterdrückende Staat. Trotz berechtigter Kritik wird dieses Schema wohl vielfach auch schlicht als tradiertes Stilmittel eingesetzt. Heikler wird es dort, wo der Staat durch eine gleichwertige oder noch höhere und nicht konkret definierte Macht ersetzt wird. Auch dies stellte Hürlimann in seiner Arbeit fest. Die Rede war dann beispielsweise von Elite oder Oberschicht.
Rap korrigiert sich selber
Spekulation begünstigt auch die Formalität von Flow und Beat. Sie schränken nicht nur die Themenentfaltung ein, sondern animieren dazu, auf einsilbige Worte zurückzugreifen. Oft werde beispielsweise ein Pronomen wie «sie» gebraucht, sagt Hürlimann. «Semantisch lässt ein solcher Pronomen-Gebrauch eine Leerstelle im Oben-Unten-Frame ungenau besetzt.» Das führt dann zu kryptischen Zeilen wie zum Beispiel: Sie kontrollieren uns.
Im Allgemeinen erklärt sich Hürlimann das Ausmass der Verbreitung von Verschwörungsmythen im Rap damit, dass Hip-Hop ein grosser Teil der öffentlichen Aufmerksamkeitsindustrie geworden ist. «Aber man darf nicht verallgemeinern. Die Rap-Kultur ist vielfältig. Für jedes Beispiel gibt es ein Gegenbeispiel.» Solche Korrektive gibt es auch in der Schweiz, wie Hürlimann anmerkt. Nachdem die SVP 2015 beispielsweise ihren Wahlkampf-Rap «Welcome to SVP» veröffentlichte, reagierten die Rapper C.mEE, Freezy und Bobby Brookz mit einer Verarschung.
Rap ist Battle. Rap ist Wut. Rap ist plakativ. Darin besteht die Stärke des Genres. Niemand erwartet von drei oder vier Minuten dauernden Songs eine differenzierte Erörterung eines Problems. Aber vielleicht könnten sich Rapperinnen und Rapper auch einfach mal eingestehen, dass Rap kein geeignetes Mittel ist, um die Funktion des Wirtschaftssystems auszulegen. Anstatt selbstermächtigend zu sagen: die da oben. Die Welt ist einfach verdammt kompliziert. Und das wird man ja wohl noch sagen dürfen. So wie es die Berner Rapperin Steff la Cheffe in ihrem Song «Ha kei Ahnig» tut. Oder Fatoni:
Alles ist so, alles ist so kompliziert, ja Alles ist so, alles ist so kompliziert, ja Alles ist so, alles ist so kompliziert, ja So kompliziert.
Ronnie Zumbühl ist in Nidwalden aufgewachsen – er wurde mitunter durch die Berner Rap-Crew Eldorado FM sozialisiert und aufgeklärt. Zumbühl lebt in Luzern, arbeitet als Journalist beim «Zofinger Tagblatt» und schreibt für Kultz.ch und die «Titanic».