Eine Szene findet ihren Hotspot
Bei Seilbahnen macht den Reissäcklern keiner etwas vor – über Nidwalden spannt sich das weltweit dichteste Netz. Zwischen Pilatus und Engelberg bewegt sich auf dünnen Bändern aber auch eine Slackline-Szene, die ihresgleichen sucht.
Jonathan Furrer — 07/08/21, 06:18 AM
Auch zu zweit balancieren die Slackliner über den Schluchten. (Foto: zVg)
Schon wieder baumelt Tim Odermatt kopfüber am Seil. Unter ihm 15 Meter Leere, über ihm die gespannte Slackline und der Himmel. Doch nur Sekunden später steht der 21-jährige Stanser bereits wieder oben und setzt zum nächsten Trick an. Vielleicht schafft er die «Yoda Roll» dieses Mal und steht nach der Drehung um die eigene Achse mit beiden Füssen fest auf dem schwingenden Seil.
An diesem Wochenende Ende Mai ist Tim nicht der einzige, der über diese Schlucht weit oben im Pilatusgebiet balanciert. Über dem Flussbett hängen acht Slacklines. Rund 15 sogenannte Highliner sind darauf unterwegs – die meisten Nidwaldner und Nidwaldnerinnen.
Internationale Stars der Szene
Einige in dieser Truppe gehören zu den Besten der Welt. Beispielsweise Basti Egger aus Deutschland oder der Schweizer Sam Volery, der sich jedoch derzeit von einer Schulteroperation erholt und nicht aufs Seil kann. Ein Szene-Onlineportal nannte ihn «One of the most influential figures in the worldwide slackline community». Die Italienerin Lissy – eigens aus Turin angereist, um mit dieser Gruppe für zwei Tage über die Seile zu balancieren – sagt, Sam sei für den Sport sowas wie Messi für den Fussball.
Eine Woche zuvor sitzt die Slackline-Berühmtheit am Esstisch in seiner WG in Stans. Auf der Terrasse hängt eine Slackline, ins Dachgebälk sind Kletter-Griffe geschraubt. Damit erklärt sich nicht nur ein weiteres Hobby Sams – bei seinem Sport gehört das Klettern oft schlicht dazu. Die Seile müssen irgendwie auf der richtigen Höhe angebracht werden. «Der gefährlichste Teil beim Highlinen», sagt Sam. Damit nimmt er eines jener Stichworte vorweg, ohne die kaum ein Gespräch mit einem Highliner auskommt: Risiko, Angst, Gefahr, Adrenalin. «Highlinen ist der sicherste Outdoor-Sport überhaupt», ist sich Sam jedoch sicher.
In seiner zwölfjährigen Slack-Karriere habe er sich bis auf ein paar Schürfungen und Kratzer keine einzige Verletzung zugezogen. Und: Mit jedem – gesicherten – Sturz steige das Selbstvertrauen in das eigene Können. Bei einem Dutzend Ausrutschern in zehn oder zwanzig Meter Höhe, an einem einzigen Trainingstag, werde ein Sturz schnell selbstverständlich. «Weil wir immer am Limit des Machbaren trainieren, sind wir ausnahmslos immer angeseilt», sagt Sam.
Tim bei Seelisberg auf dem Seil. (Foto: zVg)
Mit am Tisch sitzt Tim. Jener Highliner, der eine Woche später die «Yoda Roll» am Fusse des Pilatus übern sollte. Tim ist gefesselt von den Seilen.
Vor drei Jahren beginnt Tim mit dem Slacklinen. Drei Monate vergehen und er läuft zum ersten Mal auf 25 Metern Höhe, ist damit bei den Highlinern angekommen. Eine extrem kurze Zeitspanne: Die Meisten üben vor dem Sprung auf das Hochseil bis zu zwei Jahre auf Kniehöhe. Nun beginnt er mit dem «Highline Freestyle», auch «Trickbouncen» genannt. Dabei bringt der Slacker das Seil zum Schwingen und dann: Springen, hüpfen, drehen. «Wir inspirieren uns gegenseitig. So lerne ich ständig Neues dazu», sagt Tim und nimmt einen Schluck aus seiner Guarana-Büchse, an welcher er während dem zweieinhalbstündigen Gespräch noch öfters nippen wird – sie scheint deutlich mehr als die angegebenen 3dl zu enthalten.
Pionier, Firmengründer, Weltrekordhalter
Sam Volery sitzt ohne merklich etwas anders als seinen Mund zu bewegen am Tisch. Diese Ruhe und Körperspannung braucht wohl, wer sich auf einem zweieinhalb Zentimeter dicken Seil über schwindelerregend hohe Schluchten bewegt.
2008 findet Sam nach einem Kreuzbandriss, den er sich beim Springen auf Skiern zugezogen hatte, zur Slackline. Neun Monate Sportpause prophezeien die Ärzte. Er jedoch stellt das Therapiegerät in die Ecke, hinkt an Krücken auf seine erste Slackline. Nach vier Monaten ist sein Knie wieder belastbar.
Das Slacklinen hat sich in den vergangenen Jahren rasant entwickelt. Daran hat Sam einen wesentlichen Anteil: Er hat die Materialien der Bänder mitverbessert und ganze Spann- und Sicherungssysteme. Seine vor zwölf Jahren gegründete Firma «Slackivity» verkauft Zubehör in die ganze Welt. Doch obwohl, wie Sam sagt, die Firma in der Branche führend ist, werfe sie nur wenig Gewinn ab. Ein paar Franken extra verdient sich der ETH-Absolvent mit Shows, bei denen er wie beim «Züri Fäscht» oder bei einer Hochhaus-Einweihung aufs Seil klettert.
Bekanntheit über die Szene hinaus erlangte Sam dank einiger Rekorde, die er aufgestellt hat. Bei der Frage nach der genauen Anzahl, gibt er sich bescheiden. Es seien wohl ungefähr zehn. Dass er die Zahl wirklich nicht auf Anhieb kennt, nimmt man dem 37-Jährigen ab. Denn Weltrekorde schmelzen beim Highline schneller als derzeit der Schnee in den Bergen.
2015 beispielsweise lief er in der Schöllenenschlucht für den Weltrekord über eine 169 Meter lange Highline. Ein Jahr später brach er diesen selbst mit einer 540 Meter langen Highline zwischen den Churfirsten.
Lieber Nidwalden statt Zürich
Statt Rückwärts zu schauen, beschäftigt Sam sich aber lieber mit neuen Projekten. Und diese sollen ihn nicht unbedingt über möglichst lange Seile bringen. Damit gingen nämlich auch ein hoher Personal- und Kostenaufwand einher. Der Gang über 1900 Meter beispielsweise habe rund 20000 Franken gekostet. Und weil die Möglichkeiten auf der Trickline so gross sind, suche er die Challenge vermehrt da. So war Sam Volery weltweit der Erste, der auf der Slackline einen Handstand vollbrachte. Man braucht es nicht selbst auszuprobieren, um seine Worte nachzuvollziehen zu können: «Das kostet unglaublich viel Kraft.»
«Drei der zehn weltbesten Freestyle Highlinern sind derzeit in Stans.»
Sam Volery
Seit anfangs Jahr wohnt der Zürcher Slackline-Star nun in Stans. Ein Grund für den Auszug aus Zürich: die Nähe zu den Bergen. Der Andere: Die Nidwaldner Slackline-Community. Immer wieder seien ihm die Stanser an verschiedenen Highline-Spot begegnet. Und sie beeindruckten den Rekordmann. Mit ihrem Können, ihrer Ausdauer, ihrem Ehrgeiz. Doch vor allem auch mit ihrer Gastfreundschaft, der guten Stimmung, dem Teamgeist. «Die Dichte an guten Highlinern ist hier extrem hoch», sagt Sam. «Drei der zehn weltbesten Freestyle Highlinern sind derzeit in Stans.»
Zum gemütlichen Teil
Szenenwechsel, zurück in den Bergen. Über der Kleinen Schliere balancieren bis zu sechs hoch konzentrierte Highliner gleichzeitig. In ihrer bunten Kleidung bilden sie den Kontrast zum sanften Grün des Hintergrunds. Inzwischen hat Tim wieder festen Grund unter den Füssen. Nach rund 90 Minuten «bouncen» und geschätzten zwanzig Stürzen ist er erschöpft, mental wie physisch.
An diesem Tag wagt er sich insgesamt sechsmal aufs Seil. Aber erstmal geht es nach unten zur Gruppe. Hier sitzen die Slackliner, auf Campingstühlen oder Steinen. Ein Joint kreist. Die Stimmung ist gelöst, fast euphorisch. Sie haben es sich bequem eingerichtet, einige campen hier tagelang. Sie schlafen unter Planen, waschen sich im Fluss, essen Pizza aus dem Steinofen.
Sam lässt derweil eine Drohne mit Kamera über der Szenerie kreisen. Was er filmt, landet auf Instagram. Mit einigen der Slacklinern macht er Interviews. Auch diese Videos wird er später auf seinen Kanal stellen. Wenn er schon selber nicht in die Höhe kann, sollen wenigsten die Klickzahlen steigen.
«Es geht hier um den Sport, nicht ums Material», betont Sam. Keiner gebe mit teurem Equipment an, das sei anderswo nicht so. Tim schätzt an der Community «das gegenseitige Pushen und die super Kollegschaft». Auch gebe es untereinander kein Konkurrenzdenken. Im Gegenteil: Jeder freue sich für den andern, wenn ihm etwas gelinge. Kürzlich haben die Stanser auch den Verein «Highline Unterwalden» gegründet. Schliesslich komme ein Mitglied aus Obwalden, merkt Tim schmunzelnd an.