Bildbetrachtung
Auf der einen Seite finde ich es super, dass mein Mami gegen Tiefkühlfood und Takeaway ist. Auf der anderen Seite ist sie aber halt leider eine sagenhaft schlechte Köchin.
Christov Rolla — 05/07/21, 04:26 AM
«Aber wie gesagt, abwaschen tu ich sehr gerne. Ich mag das warme Wasser.»
Im alten China ass man Rhabarberwurzeln als Mittel gegen Lustlosigkeit, Darmträgheit und Pest. Das hat unser Bio-Lehrer erzählt. Und dass Rhabarber zum Gemüse gezählt wird und eine Rhabarberwähe deshalb auch nicht als Fruchtwähe angeboten werden darf. Hast du das gewusst, Mami?
Ach, Mami kann mich ja gar nicht hören, sie ist auf dem Balkon am Rauchen, wie immer nach dem Mittagessen, während ich den Abwasch mache. Normalerweise würde mein Bruder neben mir stehen und abtrocknen, aber am Freitag hat er über Mittag jeweils irgendwas in der Schule, Hauswirtschaft oder Basketball oder Klarinette, ich weiss gar nicht. Muss ihn mal fragen. Jedenfalls ist Freitag der einzige Tag, an dem es manchmal Streit gibt zwischen Mami und mir. Ich wasche zwar gerne ab, aber das Abtrocknen finde ich voll unnötig. Und das ist dann immer der Streitpunkt.
Mami sagt, ohne Abtrocknen gibt das Wasserflecken, aber erstens würde mich das nicht stören, und zweitens stehen die Teller ja nachher sowieso im Schrank und niemand sieht sie oder sie haben Essen drauf. Und da geht es bei Mami und mir dann immer in kürzester Zeit von null auf hundertachtzig. Sie wirft mir dann vor, eine unhygienische Minimalistin zu sein, und ich kontere, sie sei eine pedantische Diktatorin, und spätestens bei diesem Punkt sind wir dann froh, dass unsere Familie ein gewaltfreies und wertschätzendes Leitbild hat, und von ihr kommt höchstens noch, ob ich nicht vielleicht wieder einmal duschen möchte. Wenn ich dann ansetze, ihr meine Einstellung zu Ressourcenverschwendung und toxischen Schönheitsidealen zu erklären, geht sie zuverlässig seufzend eine zweite Zigarette rauchen, und wir haben wieder Frieden.
«Ich wüsste gerne, wie man diese Bewegung der Hände im Wasser nennt. Füsse waten, aber was machen Hände?»
Aber wie gesagt, abwaschen tu ich sehr gerne. Ich mag das warme Wasser. Manchmal höre ich auf, lehne meine Stirn an das Holz des Küchenschränkchens über dem Lavabo, von unten steigt die Wärme auf, und ich bewege meine Hände langsam im Wasser hin und her. Als ich noch voll in der Pubertät war, bemerkte ich schlechte Tage daran, dass ich abschweifte und an irgendwas anderes dachte und die Hände einfach so ins Wasser hängen liess, ohne Bewegung, wie tote Fische. An guten Tagen dachte ich zwar auch an irgendwas anderes, aber die Hände bewegten sich sachte hin und her, als würden sie das Wasser streicheln.
Heute habe ich fast nur noch gute Tage. Und ich wüsste gerne, wie man diese Bewegung der Hände im warmen Wasser nennt. Füsse waten, aber was machen Hände?
Ich mag unseren Bio-Lehrer. Erstens behandelt er uns wie Erwachsene, zweitens ist er lustig, und drittens lernt man bei ihm interessante Sachen. Also, jetzt nicht unbedingt Sachen fürs Leben, aber so Stories, die man später in Gespräche einfliessen lassen kann, wie vorhin das mit dem Rhabarber. Oder dass das Reh gar kein weiblicher Hirsch ist, sondern ein völlig separates Tier. Oder dass Erbsen nicht das sind, was in Bohnenschoten drin ist. Beides habe ich voll lange geglaubt! Und solche Sachen finde ich eben viel interessanter als semipermeable Membranen und haploide Keimzellen und was weiss ich.
Jetzt bin ich mir grad nicht sicher, ob ich das Schäleli mit dem Essigwasser auch schon abwaschen soll. Essigwasser hilft gegen schlechte Gerüche in der Küche. Das weiss ich jetzt aber nicht vom Bio-Lehrer, sondern von gutetipps.org. Mami ist nämlich nicht so eine gute Köchin, und heute sind ihr sowohl das Rhabarbermus als auch die Vegihacktätschli angebrannt.
Paps ist viel der bessere Koch, und darum ist meistens er es, der bei uns kocht. Ich finde es voll gut, dass meine Eltern ein modernes Rollenbild haben! Aber am Freitag hat Paps immer Herrenessen oder Physio oder so, und dann ist Mami für das Mittagessen zuständig. Und das hat so ein bisschen zwei Seiten. Auf der einen Seite finde ich es super, dass sie gegen Tiefkühlfood und Takeaway ist. Auf der anderen Seite ist sie aber eben halt leider eine sagenhaft schlechte Köchin.
Und ich möchte sie auch gar nicht shamen für ihre Kochkünste, Kochkünste jetzt ironisch gemeint. Ich glaube nicht, dass sie absichtlich schlecht kocht; ich finde einfach, sie könnte sich ein wenig mehr Mühe geben. Darum ist das jetzt so ein bisschen ein Grenzfall: Kann sie was dafür, oder kann sie nichts dafür? Shamen oder nicht shamen? – Handkehrum denke ich oft, dass nicht alle alles gut können müssen, dass man auch mal etwas nicht gut können darf. Man ist deswegen trotzdem ein vollwertiges Mitglied unserer pluralistischen Gemeinschaft, das ist meine Überzeugung! Und der allgegenwärtige Leistungsdruck ist sowieso zum Kotzen.
Doof ist halt einfach, dass ich das Zeug am Schluss essen muss.
# Christov Rolla ist eigentlich Musiker. Für diese Kolumne aber versetzt er sich in Menschen und an Orte. Manche bezeichnen dies als Rollenprosa, andere als redselige, ausschweifende und komplett herbeifabulierte Selbstgespräche. Wir nennen es: Bildbetrachtung. Mit freundlicher Unterstützung der Kulturförderung des Kantons Luzern.