Landei versus Stadthuhn
Was das Stadtleben aufregend macht, ist seit Monaten lahmgelegt. Ganz anders auf dem Land: Hier ist alles wie immer. Das macht die Sache nicht besser, im Gegenteil.
Christine Weber — 01/13/21, 02:18 PM
Seit ich von der Stadt aufs Land gezogen bin, ist ein einziger normaler Winter ins Land gezogen. Es folgten ein Frühling, ein Sommer, ein Herbst und wieder ein Winter – sie alle standen unter einem anderen Stern, nichts war und nichts ist normal. Jedenfalls nicht in meinem urbanen Bekanntenkreis. Dort ist der Teufel los, beziehungsweise eben nicht mehr los, und das ist das Problem. Hier auf dem Land hat kaum etwas geändert. Eher sogar gar nichts. Auf dem Land ist alles genauso wie vorher: Es schneit oder regnet. Es ist Katze und Zeit zum Holzen. Es ist Garten und Kohlkopf. Es ist Schneeschaufeln und Vollmond. Es ist nichts. Es ist halt einfach Land und eigentlich nicht der Rede wert. Trotzdem stürzt mich die Situation in ein Dilemma: Ist mein Leben wirklich so langweilig, wie es die Notrufe aus der Stadt vermuten lassen, wenn es dort ein paar Monate nichts ist? Gehöre ich gar zu den Profiteurinnen der Krise, weil ich zum richtigen Zeitpunkt einen Garten bepflanzen, Kühe streicheln und statt Bürokram Holz zerhacken kann? Finde ich es etwa auf dem Land nur temporär cool, weil jetzt in der Stadt sowieso alles lahmgelegt ist und jegliche urbane Amputationserscheinungen hinfällig geworden sind, die mich ansonsten vermutlich nach ein paar Monaten kalt erwischt hätten? Gut möglich.
In den hintersten Teil von Obwalden gezogen bin ich aus Eigennutz und ein bisschen aus Selbstschutz: Ich wollte ein paar Gänge herunterschalten im rasanten Leben mit den tausend Möglichkeiten und Attraktivitäten des städtischen Lebens. Auf dem Land, so sagte ich mir, gibt es weder Szenekneipen noch allabendliche Kulturaktivitäten, es gibt keine Läden oder Kinos und das Sozialleben hält sich in (sehr) engen Grenzen. Auf dem Land kann man sich auf das Beobachten von Naturereignissen und die grauslichen Eruptionen des eigenen Inneren konzentrieren, einen Zugang zu sich und im besten Fall einem grösseren Ganzen finden, und das alles fernab von urbaner Ablenkung. Ruhe statt Rastlosigkeit, Gelassenheit statt Getriebenheit. Genau das suchte ich! Bevor ich allerdings herausfinden konnte, ob meine Vermutungen stimmen und das einsame Landleben tatsächlich befreiend und vielleicht sogar inspirierend wirkt, waren plötzlich alle Menschen in genau der gleichen Situation: alleine.
Und alle fanden und finden das ganz schlimm. Und plötzlich fand und finde auch ich das ganz schlimm. Dabei habe ich mich doch – im Unterschied zu den Stadtmenschen – freiwillig und ganz und gar unabhängig von der Pandemie für die (ländliche) Quarantäne entschieden. Zwar ist bei meinen skeptischen Stadtleuten vorübergehend tatsächlich ein gewisser Neid aufgekommen … den Berg vor der Nase und die Kuhfladen vor der Tür! … was für ein Glück, während dieser langweiligen Zeit am Arsch der Welt zu leben! Aber wäre das auch ohne Corona so? Ziemlich sicher nicht. Und da kommt gleich die nächste Frage: Führen eigentlich in der Stadt alle ein so unglaublich interessantes Leben in normalen Zeiten oder kommt es einem erst jetzt so vor, wenn es nicht mehr so ist und man sich vorstellt, wie es wäre, wenn eben nicht alles anders wäre? Und was ist denn eigentlich ein interessantes Leben? Ist sowas überhaupt möglich, wenn der Aspekt freiwillig wegfällt? Möglicherweise ist alles wieder gut, sobald wir uns für ein solches oder ein anderes Leben entscheiden können. Unabhängig davon, wo und wie es ist: Hauptsache, es ist freiwillig.
Meine Freundin aus der Stadt sagt dazu: Global gesehen sind wir sowieso alle am Arsch, ganz egal ob auf dem Land oder in der Stadt.
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