Bildbetrachtung
Die Gemeinde singt. Und jetzt ja nicht verwirren (lassen).
Christov Rolla — 04/09/21, 04:30 AM
Jetzt schleppt die Gemeinde schon wieder so hinterher. Furchtbar. Ich mein, ich kann es ja verstehen, wenn der Pfarrer ein völlig unbekanntes Lied aus dem Gesangsbuch hervorkramt, um die Liturgie aufzupeppen, dass die Leute dann ängstlich sind und sicherheitshalber der Orgel hinterhersingen. Aber bei immer und immer wieder gesungenen Evergreens wie der 195 [dem beliebten Fürbitten-Kyrie aus Taizé; Anm. d. Red] oder dem Bonhoeffer [«Von guten Mächten treu und still umgeben»; Anm. d. Red.] könnten sie doch weiss Gott voransingen wie ein Gitzi. Aber nein, immer zuerst die Orgel abwarten. Als unbeteiligte Zuhörerin hast du da einen interessanten Stereo-Effekt: Zweimal dieselbe Melodie, einmal von der Orgel, einmal von der Gemeinde, exakt um einen Ton verschoben. Aber als Organistin bist du halt nicht unbeteiligt, sondern im Gegenteil, und wenn du nicht brutal laut registriert hast, dann hast du ständig dieses Delay vom Singvolk aus dem Kirchenschiff im Ohr, und dann musst du stark sein, sehr stark, um das nicht automatisch ausgleichen zu wollen. Weil sonst wirst du langsamer, um dich anzupassen, und dann ist die Kirchgemeinde irritiert, weil sie keine Leitorgel mehr hat, und wird ihrerseits langsamer, damit ihr die Orgel wieder vorangehen möge, und zack hast du wieder die gleiche Situation, und du bremst, und die Gemeinde bremst, und nach drei Strophen bist du vom lebendigsten Allegretto ins tranigste Andante geraten. – So, Schlussakkord. Immer schön liegen lassen, bis auch die Gemeinde angekommen ist.
Jetzt die Lesung.
Päuschen für mich.
Ich sage immer, wenn mich jemand fragt, was es zum Orgeln braucht: Pedale schön und recht, aber das ist nicht das Schwierigste. Die Füsse mit den Händen koordinieren, das können schliesslich Schlagzeuger und Fahrlehrer genauso gut. Und Stabhochspringerinnen erst! Nein, am wichtigsten ist: Ein eisernes Nervenkostüm. Diese Schlepp-Affinität der Gemeinde muss an dir abprallen. Wie heisst es so schön? Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan, aber das Ewig-Schleppende hält uns zurück. Darum trägst du im ersten Lehrjahr als Organistin ja auch Scheuklappen und Ohrstöpsel und übst nichts anderes als Tempohalten, Tempohalten, Tempohalten. Und darum entwickelst du über die Jahre auch automatisch eine Art Tunnelgehör. Wie Tunnelblick, aber eben akustisch: Ausblenden der mitsingenden Umgebung! Das ist das Wichtigste für diesen Beruf.
Wart schnell. Lesung fertig, nächster Gemeindegesang, Vorspiel, Einsatz der Gemeinde, Ohren zu.
Wo war ich? – Ah ja, Tempohalten als Kernkompetenz. – Das ist auch der Grund, warum uns die Kirchenchordirigenten aus tiefstem Herzen hassen. Unsere Temposicherheit. Da haben sie viele Proben gebraucht, um dem Chor ihre Vorstellung der korrekten Tempi beim Kyrie oder beim Sanctus oder beim Agnus Dei nahe zu bringen, und dann stellt sich bei der ersten Probe mit mir heraus, wie falsch diese Vorstellung war. Weil, der Kirchenchordirigent ist sicher ein prima Pädagoge, die Organistin aber ist in jedem Fall die Tempelpriesterin des Tempos. Und als Tempotempelpriesterin kannst du dich ja nur schon von der Berufsehre her beim besten Willen nicht der stümperhaften Tempovorstellung des Dirigenten unterordnen. Ist es meine Schuld, wenn jeden Karfreitag der Chor in drei Lager zerfällt, wovon das eine stockkonservativ dem Dirigenten die Treue hält und das andere progressiv der Organistin folgt und das dritte verzweifelt zwischen ihm und mir hin und her schaut?
Ach Mist, guck mich an: Da sitz ich hier und spiele die 795 [«Sonne der Gerechtigkeit»; Anm. d. Red.] und denke über mein Berufsleben nach und weiss plötzlich nicht mehr, ob wir bei der sechsten oder siebten Strophe sind. Das passiert mir fast immer, wenn der Pfarrer mehr als vier Strophen singen lässt. Vier geht, da kann ich stufenweise die Registration ändern und behalte so die Orientierung. Aber ab fünf Strophen verabschiedest du dich halt irgendwann innerlich, weil so interessant ist die Orgelbegleitung jetzt auch wieder nicht, dass sie dich über zig Strophen aufmerksamkeitsmässig bei der Stange hält, und allzu abwechslungsreich und ornamentiert darfst du ja auch nicht spielen, weil sonst die Kirchgemeinde verwirrt ist und aufhört zu singen und dann musst du wieder bei der Kirchenpflege antraben.
Also, ist das jetzt Strophe 6 oder 7, was die da singen? Schwer zu sagen, weil schwer zu verstehen, hier oben auf der Empore. Die mümmeln ja auch immer so, befreites Singen hört sich anders an. Jedenfalls stellt sich jetzt die Frage: Weiterspielen oder aufhören? Versehentlich eine Strophe anhängen, obwohl die Gemeinde schon fertig ist? Oder eine Strophe zu früh aufhören und die Gemeinde abwürgen?
Ich aber sage dir: Es ist völlig egal. Denn siehe, das ist neben dem Nervenkostüm und dem Tunnelgehör die dritte wichtige Eigenschaft für eine Organistin: Das gesunde Selbstvertrauen. Mag der Pfarrer auch sieben Strophen ausgewählt und die Sigristin sie mit Blechziffern an der Kirchenwand verkündet haben, so betrachtet doch, was eine rechte Organistin ist, diese nicht als Vorgabe, sondern als Vorschlag. Eine selbstbewusste Organistin nimmt sich heraus, eine oder zwei Strophen anzuhängen, wenn sich die Musik als dessen würdig erweist. Findet sie jedoch umgekehrt sieben Strophen redundant und liturgisch nicht näher erörternswert, so handelt sie reinen Gewissens nach dem weisesten aller Bach-Choräle: «Es ist genug.» [Aus der Kantate BWV 60, «O Ewigkeit du Donnerwort»; Anm. d. Red.]
So, ich mach jetzt mal den Schlussakkord. Lass uns schweigen und lauschen! Den Nachhall habe ich immer am liebsten. Es ist der einzige Moment, wo es dort unten endlich einmal still ist.
# Christov Rolla ist eigentlich Musiker. Für diese Kolumne aber versetzt er sich in Menschen und an Orte. Manche bezeichnen dies als Rollenprosa, andere als redselige, ausschweifende und komplett herbeifabulierte Selbstgespräche. Wir nennen es: Bildbetrachtung. Mit freundlicher Unterstützung der Kulturförderung des Kantons Luzern.