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Judenhass, Aggressionsbewältigung auf dem Schulweg und unerschütterliche Hoffnung: Regisseur Mano Khalil, verarbeitet in seinem neuen Film «Nachbarn» seine Kindheit in einem syrisch-türkischen Grenzdorf.
Sarah Stutte — 10/22/21, 08:32 AM
Bereits in der Schule beeinflusst: Eine Szene aus Khalils Film «Nachbarn».
Wenn Mano Khalil über Politik spricht, tut er das energisch. Alles an ihm scheint in Aufruhr zu sein. Die ansonsten ruhige Stimme nimmt einen anderen Klang an, seine Gedanken und Gefühle unterstreicht er mit Handbewegungen. Bis heute hätten die Regenten in Ländern wie Syrien oder der Türkei nur so viel Macht, weil die Bevölkerung nicht wisse, was Demokratie und Respekt wirklich bedeutet. «Wenn sich ein Mensch frei fühlt und seine eigenen Entscheidungen trifft, hat er keinen Grund, jemand anderen zu hassen», sagt der kurdisch-schweizerische Filmemacher mit Überzeugung.
Sein neuer Spielfilm «Nachbarn», der seit dem 14. Oktober in den Kinos läuft, handelt genau davon: den unsichtbaren Linien, die zwischen Dorfbewohnern unterschiedlicher Glaubensrichtungen gezogen werden und ein vormals friedliches Miteinander plötzlich unmöglich machen. Am Beispiel eines Ortes an der Grenze zur Türkei werden die Anfänge des heutigen Kriegs in Syrien geschildert, als sich die Aversion gegen alles nicht Muslimische in den 80er-Jahren langsam in den Köpfen der arabischstämmigen Bevölkerung manifestierte.
«In Syrien lebt der Hass seit fünfzig Jahren und wird stets weitergetragen.»
Für den 56-jährigen Mano Khalil erzählt der Film aber vor allem von der Gegenwart. Die Handlung beginnt 2021 in einem Flüchtlingslager und kehrt dann zu ihrem Ursprung zurück. «Das ist keine Vergangenheit – in Syrien lebt der Hass seit fünfzig Jahren und wird stets weitergetragen», erklärt der Wahlberner, der erst Jura und Geschichte in Damaskus, später Regie in der Tschechoslowakei studierte und 1996 aus Syrien flüchtete.
Erst Strohpuppen, dann Menschen
Die Geschichte zeigt die langsame Vergiftung der Assad-Diktatur durch die Augen eines kleinen Jungen namens Sero auf (gespielt von Mano Khalils Grossneffen Serhed Khalil, den er vorher nicht kannte). Dessen neuer Lehrer ist ein glühender Anhänger der nationalistischen Baath-Partei. Er befiehlt den kurdischen Kindern in der Klasse, nur noch Arabisch zu sprechen und ihre Treue gegenüber dem Führer Hafiz al-Assad allmorgendlich auf die Fahne zu schwören. Jede Zuwiderhandlung wird hart bestraft.
In einer Szene müssen die Schüler mit dem Messer einer Strohpuppe den Kopf abschneiden, die sinnbildlich für einen Juden steht. Sie stamme aus einem Theaterspiel, so Khalil. «Diejenigen, die heute Menschen enthaupten, wurden vor vierzig Jahren durch die Erziehung des Regimes mit diesen Stücken darauf getrimmt. Bis heute gibt es solche Aufführungen in den Schulen, um die Kinder zu instrumentalisieren.»
Authentizität war wichtig
Die Erlebnisse, die in «Nachbarn» geschildert werden, sind Mano Khalil nicht fremd, sondern Teil seiner eigenen Kindheit. «In all meinen Filmen steckt immer etwas von mir. Von dem, was ich denke, fühle und erlebt habe.» So auch in diesem. Sero ist Mano. Der Ort, in dem alles spielt, ist Qamishli nachempfunden, wo Khalil aufgewachsen ist.
Zudem wurden fast alle Name im Film von Mitgliedern Khalils Familie übernommen. «Ich habe versucht, so authentisch wie möglich zu bleiben. Da meine Mutter aus dem türkischen Teil Kurdistans stammt, habe ich meine Grosseltern – wie Sero im Film – das erste Mal durch den Stacheldraht an der Grenze getroffen.»
Die Identität bewahren
Mano Khalil hatte, bis er in die Schule kam, eine schöne Kindheit, mit vielen Tieren auf dem Grundstück und einem starken Zusammenhalt in der Familie. Sein Vater war Bauer, ein einfacher Mann mit humanistischer Einstellung, die er an seine Kinder weitergab. Das habe Khalil und seine Geschwister vor der Beeinflussung durch das Regime gerettet. «Wir wussten, dass wir in zwei Welten leben. Die Brutalität, die wir in der Schule erfuhren, konnten wir zuhause abstreifen und uns so unsere Identität bewahren».
Regiesseur Mano Khalil ist 1996 aus Syrien geflüchtet und lebt heute in Bern.
Er fügt hinzu: «Je grausamer der Lehrer zu uns war, desto besser wollten wir Kinder sein.» Sie versuchten, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Dazu brauchte es aber auch ein Ventil, um die erfahrene Gewalt zu verarbeiten. Das geschah auf dem zwei Kilometer langen Rückweg von der Schule. «Wir rissen beispielsweise Blumenbüschel aus dem Boden, um uns von dieser Aggressivität, die sich in uns angesammelt hatte, zu befreien. Wir wollten uns reinwaschen.»
Glaube an das Gute
Woran glaubt denn Khalil selbst? «An das Gute in den Herzen, nicht jedoch an eine Obrigkeit, die irgendwo sitzt und uns lenkt und auch nicht an die Erlösung durch das Paradies. Die Verantwortung für das eigene Leben muss jeder für sich übernehmen.»
Ohne den Rückhalt seiner Familie, ist Mano Khalil überzeugt, wäre er heute ein anderer. Kurden seien, geprägt durch ihre eigenen Erfahrungen, grundsätzlich empfänglicher für die Leiden anderer. «Mein Vater liebte alle Menschen, er hatte armenische, jüdische und arabische Freunde – für ihn spielten Herkunft und Religion keine Rolle.»
Die Hoffnung bleibt
Für Khalil ist der nun schon über zehn Jahre andauernde Bürgerkrieg in Syrien eine der grossen Niederlagen der Zivilisation. «Menschenrechte und Moralvorstellungen werden einfach aufgegeben, für Öl und Profit.» Es sei keine Lösung der westlichen Länder einfach wegzuschauen, wegzugehen oder sich derart billig zu verkaufen. Auch die Leiden der Menschen gerieten in Vergessenheit: «Als der erste Schuss fiel, waren noch alle erschüttert. Doch als dann Hunderttausende erschossen wurden, war das schon Alltagsrealität.» Eine Realität, von der auch Khalil eingeholt wurde. Vor fünf Jahren wurde seine 25-jährige Nichte in Qamishli von der ISIS umgebracht. Sie war im fünften Monat schwanger. «Vielleicht wird die Welt vergessen, aber ich nicht, und die Menschen in Syrien, die alles verloren haben, auch nicht.»
Wird der Krieg in Syrien je aufhören? Nein, ist Mano Khalil überzeugt. «Nicht, solange die Religion einen so starken Einfluss hat und die Menschen in Armut leben. Aber ich verliere die Hoffnung eigentlich nie. Wir sind Menschen. Wir können uns ändern.»
Der Film läuft in Luzern im Stattkino. «Nachbarn» hat gerade den Berner Filmpreis 2021 gewonnen.