Wie Sie einen gelungenen Zürcher Tatort schreiben und warum Luzern dem Sonntagabendkrimi nicht nachweinen muss.
Anja Nora Schulthess — 10/22/20, 05:28 PM
Prime Time. Verrat. Zürich hat Luzern den Tatort geklaut. Und alle schauenhin. «Züri brännt» heisst die erste Zürcher Episode und bietet nur schon damit reichlich Sprengstoff für eine scharfe Kritik. Originell ist das nicht. Watson tut es, der Tagi tut es, die NZZ, die Süddeutsche und selbst die FAZ. Netter zwar und nicht fehlerfrei (so verwechselte etwa die Tagi-Redaktorin den Opernhauskrawall pikanterweise mit dem Globuskrawall), aber schneller. Einen weiteren Tatort-Verriss und einige Tage nach allen anderen – «Kalter Kaffee», meint der Textchef. Ich kriege ihn mit dem Argument herum, dass in diesem Fall Gegenstand und Form in perfekter Weise dialektisch zusammenfallen. Falls Sie ZHdK-Abgänger*in oder potentielle Nachwuchs-Drehbuchschreiber*in sind, hier also eine Tatort-Anleitung – orientiert am neusten Geniestreich von SRF. So gelingt «kalter Kaffee» garantiert. Das Prime-Time-Publikum wird Sie dafür lieben und die ganze Schweiz wird stolz auf Sie sein:
Sie brauchen einen Pitch!
Was immer Sie erzählen wollen, Sie brauchen einen Pitch. Setzen Sie unbedingt auf Aktualität: Metoo, Kampfjets, Corona oder immer beliebt – ein Jubiläum. 40 Jahre «Züri brännt» ist deshalb besonders geschickt, weil es Lokalkolorit mit internationaler Ausstrahlung verbindet. Bravo!
Setzen Sie auf Frauen!
Vorbei sind die Zeiten der prekären männlichen Kommissaren-Existenzen. Casten Sie Frauen. Setzen Sie auf ein Gespann von Antagonistinnen. Blond und Dunkelhaarig. Huschi und Biest. Romande und Zürischnurre. Good-Cop und Bad-Cop. Gefühlsduselige Profilerin und kalte Ex-Kriegs-Pathologin. Lassen Sie mehrere Frauen gleichzeitig aufeinander los. Zeigen Sie Konkurrenzkämpfe. Halten Sie die Kamera direkt drauf. Und lassen Sie dann einen männlichen Protagonisten mit der nötigen menschlichen und beruflichen Erfahrung schlichten.
Frauen und Männer, die den Frauen die Welt erklären.
Verweben Sie Berufliches mit Privatem!
Was die Zuschauer*innen wirklich sehen wollen, sind Tränen, Privates, Beziehungskisten. Zeigen Sie die Wohnungen der Protagonistinnen und Protagonisten. Die Romandes in einer kargen Altbau-Wohnung mit von Kerzen geschwärzten Wänden und einer Flasche Schnaps auf dem Tisch; die Zürcher Hipster in einer Wohnung mit Zierpflanzen und moderner Kunst an den Wänden. Immer gut: der Verdächtige steht in einer Beziehung mit der Kommissarin selbst. Seien Sie dabei drastisch. Lassen Sie Kommissarin Nr. 1 den Freund der Kommissarin Nr. 2 verhören, während Nr. 2 durch die Glasscheibe zuschaut. Wählen Sie dabei deutliche Worte: «Haben Sie am 25. Dezember 1980 Ihre damalige im vierten Monat schwangere Freundin erschlagen?»
Mehr ist mehr!
Überlegen Sie immer, wie Sie noch einen draufgeben können. Beispielsweise kann sich im Laufe der Handlung herausstellen, dass das Mordopfer Polizistin war. Und Spitzel. Und Punk. Und Lesbe. Und schwanger – von einem Fixer.
Wo immer möglich – halten Sie die Kamera direkt drauf!
Trauen Sie ihrem Publikum etwas zu. Halten Sie die Kamera immer direkt drauf auf das Drastische. Orientieren Sie sich an den Horrorfilmen der Nullerjahre. Zeigen Sie den Schädel in einem Close-up. Steigern Sie sich, indem Sie das Skelett des vier Monate alten Fötus in Nahaufnahme zeigen. Verwenden Sie Theaterblut. 300 Franken pro Liter – das sollte es Ihnen auf jeden Fall wert sein. Sollten Sie einen Suizid zeigen, zeigen Sie ihn richtig: Knarre, Schuss, Totumfallen.
Setzen Sie auf authentische, knackige Dialoge!
Wo immer Sie sind, hören Sie zu, wie die Leute im Alltag wirklich sprechen. Tragen Sie ein Aufnahmegerät auf sich. Vermeiden Sie lange Sätze und setzen Sie auf kurze, gestochen scharfe Sätze, die sitzen. Beispielsweise so:
- «Krass»
- «Wo isch s'Projektil?»
- «Steckt»
Oder:
- «Isabelle, Du muesch grösser denka. Wie segend ier im Welsche?»
-«Penser plus grand?»
- «Voilà.»
Scheuen Sie keine Klischees!
Ein Polizeikommandant mit Dreck am Stecken, ein Todkranker mit Reue für seine verjährte Tat, eine karrieregeile Ermittlerin, Spitzel und Anarchist treffen sich vierzig Jahre später – alles schon gesehen, funktioniert aber immer. Setzen Sie auf sichere Werte. Lassen Sie die Polizistinnen überall ihre Waffe auf sich tragen, auch im Archiv und beim Apéro. Lassen Sie die junge Kommissarin nachts, bei gedämpftem Licht und in einer Totale den Platz auf dem Chefsessel ihres bald pensionierten Polizeichefs einnehmen. Steigern Sie die Szenerie, indem Sie die Schauspielerin dazu anhalten, ihre Beine auf den Schreibtisch zu legen. Lassen Sie sie dabei High-Heels tragen. Und geben Sie die Anweisung: Schau zur Decke und denke dabei an Sex und Macht! Bringen Sie dazu den passenden Soundtrack, etwa die «Königin der Nacht».
«Schau zur Decke und denke dabei an Sex und Macht!»
Setzen Sie auf den Wiedererkennungsfaktor!
Das Publikum wird sie dafür lieben, wenn Sie Zürich von seiner besten und bekanntesten Seite zeigen. Setzen Sie auch hier auf Kontraste. Versiffte Rote Fabrik, Hardturm, Bullingertürme, Opernhaus, Bellevue. Lassen Sie die Punkerin von damals mit dem ehemaligen Bewegten und heute etablierten Chefredaktor des Neuen Zürcher Anzeigers bei Nacht ein Glas Rotwein vor dem Opernhaus trinken. Solche Szenerien brennen sich garantiert in Herz und Hirn.
Sounddesign!
Bleiben Sie auf dem neuesten Stand, was Fernsehmusik anbelangt. Machen Sie es genauso, wie man gerade Fernsehmusik macht. Lassen Sie im Studio programmieren. Lift-Musik funktioniert immer. Zwei, drei Songs genügen. «TNT», «Königin der Nacht» und «Le vent nous portera» setzen den gewünschten Kontrast und den nötigen Bezug zum Inhalt. Gehen Sie an echte Soundchecks und Konzerte. Bleiben Sie in der Umsetzung authentisch. Casten Sie das Konzertpublikum gleich in der Roten Fabrik selbst. Seien Sie erst dann zufrieden, wenn Sie mit gutem Gewissen sagen können: Genauso sieht ein Punkkonzert aus, genauso hört sich ein Soundcheck an!
Benutzen Sie High-Tech!
Investieren sie in eine aufwendige Montage, Top-Ausleuchtung, High-Tech und eine professionelle Kameraführung. Nutzen Sie alle filmischen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen und scheuen Sie keinen Aufwand. Man soll dem Film die goldenen Zwanziger ansehen, bevor sie zu Ende sind.
Seien Sie mutig, wagen Sie Neues, ecken Sie an!
Wagen Sie originelle Perspektiven und Winkel. Verwenden Sie Drohnenbilder für den Unheimlichkeitsfaktor. Wagen Sie sich an brisantes Material. Ecken Sie an, kritisieren Sie implizit die Behörden und die Polizei, seien sie politisch, aber moralisieren sie nicht.
Lösen Sie den Titel ein!
Sie haben sich für «Züri brännt» entschieden, dann vergessen Sie nicht das offensichtlichste: die Feuer-Metapher. Eine Brandleiche, ein verbranntes Foto und «Ich han es Zündhölzli azündt» sprechen für sich.
Nehmen Sie die Zuschauer an die Hand!
Setzen Sie nicht zu viel Wissen voraus. Nehmen Sie den Zuschauer an der Hand, aber so, dass er es nicht merkt. Führen Sie neue Begriffe ein, die erklärungsbedürftig sind: Denken Sie sich dazu einen authentischen Dialog aus:
-«KK III»
-(flüsternd) «Was isch das?»
-(flüsternd) «Kriminalkommissariat Drü»
-(flüsternd) «Merci!»
Suchen Sie den Dialog mit ihrem Publikum. Etwa in Live-Chats. Nehmen Sie die Meinungen ihres Publikums ernst. Hier zwei Beispiele:
«Es gibt zu viele Krimis, aus Hamburg, Stuttgart, Bozen, Istanbul, Leipzig, Zürich, es wird immer langweiliger und unterträglich. Die Plots werden immer dünner und absurder. AUFHÖREN»
«Eventuell sollte man über die Absetzung, der Serie nachdenken. Denn solche Produktionen wie zB. Züri brännt, lassen für die Zukunft nichts Gutes erwarten.»
Zu guter Letzt ein Trost für Luzern: Zürich hat zwar jetzt den Tatort. Flückiger und Ritschard sind tot. Dafür hat Luzern bald, was Zürich nie hatte: Das WEF in der Zauberstadt auf dem Zauberberg am Zaubersee. Bald werden jene Untoten des Postfordismus ihr Unwesen aus nächster Distanz betreiben und infizieren, was noch zu retten ist: Die Zentralschweiz. Luzern wird endlich bei etwas Grossem dabei sein und die Zürcher*innen werden dankend in Scharen anreisen. Guter Stoff spielt sich im Realen und aus unmittelbarer Nähe ab. Wenn sich das Schweizer Fernsehen zum ersten grossen Feuilleton-Jubiläum der Zombie-Episode auf dem Bürgenstock widmen wird, wird das Ereignis längst kalter Kaffee sein und formal gesehen als sicherer Wert zur besten Zeit über die Bildschirme flimmern.
Anja Nora Schulthess ist Autorin und Kulturwissenschaftlerin. Sie schreibt journalistische Beiträge, Essays, Lyrik und Prosa. 2017 erschien ihr lyrisches Debüt «worthülsen luftlettern dreck». 2020 erscheint ihr Sachbuch zu den Untergrundzeitungen der Zürcher Achtziger Bewegung im Limmat Verlag. Seit Frühling 2020 lebt sie mit ihrem Partner und ihrer Tochter in Luzern.