Kaum Chancen für Neuerscheinungen und düstere Aussichten: Wie Corona sich auf die Zentralschweizer Literatur auswirkt und warum plötzlich Bücher über die Spanische Grippe veröffentlicht werden.
Linda Schumacher — 03/04/21, 11:32 AM
Martina Clavadetscher hat kürzlich einen neuen Roman veröffentlicht. Foto: Ingo Höhn
David Weber hat Redebedarf. Seit Corona die Kulturbranche weitgehend lahmgelegt hat, mangelt es dem Zuger Autor an Austauschmöglichkeiten. «Es fehlen mir Gespräche mit Kulturinteressierten, die die eigene Sicht ergänzen und bereichern.» Er vermisst es vor Publikum zu lesen, sehnt sich nach dem Kontakt mit der Leserschaft, der ihn zu neuen Gedanken anregt.
Geschrieben hat Weber im vergangenen Jahr dennoch. Dabei fällt auf: Corona hat nicht nur seine Arbeitsweise verändert, sondern macht sich auch in seinen Texten bemerkbar. Das beklemmende Gefühl der Abschottung fliesst in aktuelle Kurzgeschichten ein. Das Virus wird für ihn zudem quasi zum Langzeitprojekt. In seinem übernächsten Roman will er sich der Schere zwischen Arm und Reich annehmen, die sich durch die Pandemie noch weiter öffnet.
Der Kreativitäts-Blocker
Das zeigt: Bücher entstehen nicht einfach im stillen Kämmerlein. Bricht das öffentliche Leben zusammen, fehlt es den Schreibenden an Inspirationsquellen. So fehlt Judith Keller die Normalität, die Cafés und das Belauschen von Gesprächen. «Ich habe das Gefühl, dass die Welt, wie ich sie in meinem angefangenen Roman beschreibe, bereits veraltet ist», sagt die Schwyzer Autorin. Direkt über Corona zu schreiben, wagte sie aber nicht. «Ich glaube, dass alle dasselbe erleben oder sonst schon viel darüber geschrieben wird.»
Durch abgesagte Lesetermine hatten Autorinnen und Autoren zwar mehr Zeit, für den Schreibprozess war das Seuchenjahr jedoch nicht förderlich. «Pandemie bedeutet keineswegs Kreativität. Sie hatte einen lähmenden Einfluss», sagt etwa Martina Clavadetscher. Die in Luzern wohnhafte Schriftstellerin spürt Corona in ihrer Arbeit sanft mitschwingen. «Teilweise führt das dazu, dass ich Dinge anders wahrnehme.»
Judith Keller fehlt die Normalität als Inspiration. Foto: Ayse Yavas
Auch das Wirken der Stanser Bestsellerautorin Silvia Götschi hat sich durch Corona verändert. «Durch die äusseren Einflüsse sind die Themen düsterer geworden.» Der Krimiautorin dient die Pandemie als «unterschwelliger Antrieb». Der Krimiautorin dient die Pandemie als «unterschwelliger Antrieb». So hat sie beispielsweise eine Erzählung ein Jahr früher veröffentlicht, als ursprünglich geplant.
Corona-Literatur muss erst noch geschrieben werden
In den Medien ist Corona ein Dauerthema. Auf die Literatur hat sich die Pandemie bisher jedoch noch nicht merklich niedergeschlagen. «Die Werke sind erst am Entstehen - wenn überhaupt», sagt Literaturwissenschaftler Boris Previšić. Momentan existieren vor allem Selbstberichte und Tagebücher. Material zum Thema sei also bereits vorhanden, aber bis es literarisch verarbeitet ist, werde es wohl noch einige Jahre dauern. Was aktuell geschieht, bezeichnet Previšić als «Quid pro quo»: Um etwas Gegenwärtiges zu beschreiben, wird etwas Vergangenes verwendet. Er nimmt Jürg Federspiels Ballade von der Typhoid Mary als Beispiel. Darin verteilt die Köchin Mary unwissentlich Typhus über mehrere New-Yorker Haushalte. Previšić sieht dabei Typhus als Allegorie für Aids.
So erstaunt es nicht, dass aktuell mehr Bücher über die Spanische Grippe als über Corona herausgegeben werden. «Da ist das historische Material vorhanden, auf das man zurückgreifen kann», erklärt Previšić. Die Corona-Pandemie steht also symptomatisch für andere Krankheiten. Das erklärt auch, weshalb im Jahre 2020 Sachbücher zur Grippe und anderen Gesundheitsthemen boomten.
Es droht die Katastrophe
Nebst Sachbüchern waren 2020 auch Ratgeber im Trend. Am meisten überrascht aber die Zunahme in der Kategorie «Kind und Jugend». Tanja Messerli, Geschäftsführerin des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbands SBVV, begründet das mit dem Homeschooling während des Lockdowns. «Die Kinder mussten zuhause beschäftigt werden. Da haben bildungsaffine Eltern nicht gespart.» Hingegen massiv zurückgegangen ist der Verkauf an Reisebüchern, was angesichts der aktuellen Lage zu erwarten war.
«Neuerscheinungen haben auf dem Markt kaum eine Chance.»
Tanja Messerli, Geschäftsführerin SBVV
Der Mangel an Mobilität wirkt sich negativ auf die ganze Verlagsbranche aus. Verlagsvertreter können unveröffentlichte Bücher nicht direkt den Buchhändlern vorstellen, Buchmessen fallen aus. Dadurch haben Neuerscheinungen einen schweren Stand. «Sie werden weniger in Bibliotheken aufgenommen und landen seltener im Inventar von Grosshändlern wie Amazon, die keine Neuentdeckungen fördern.» Laut Messerli haben Neuerscheinungen von jungen oder noch unbekannten Autorinnen und Autoren deshalb kaum Chancen auf dem Markt.
Hinzu kommt, dass bei einem Lockdown die Laufkundschaft wegfällt. Neue Bücher, die sonst im Buchladen ausgestellt sind, können nicht spontan angeschaut und gekauft werden. «Gemessen an den schon jetzt fehlenden Öffnungszeiten könnte das Jahr 2021 katastrophal werden», so Messerli. Sie erwartet auch nach der Pandemie keine Flut an Büchern.
Die Pest als Referenzpunkt
Die Bücherbranche steckt in der Krise, während Streamingplattformen wie Netflix während der Pandemie boomen. Droht der Stellenwert der Literatur als Kulturgut zu sinken? Sabine Graf glaubt das nicht. Für die Intendantin vom Literaturhaus Zentralschweiz lit.z, gewinnt das Buch gerade in schwierigen Zeiten an Wert. Sie sieht die Literatur als «Einübung in Krisenmomente». Schliesslich sei sie seit jeher der Schauplatz, auf welchem die menschliche Existenz in ihrer Dramatik und rätselhaften Schönheit ausbuchstabiert wird. «Literatur ist eine seismografische Expertin für die menschliche Existenz, die sich mit Krisenmomenten und Zäsuren beschäftigt.»
Sabine Graf vom Literaturhaus Zentralschweiz sieht den kulturellen Wert der Literatur nicht in Gefahr. Foto: zvg
Sie nennt «Die Pest» von Albert Camus aus dem Jahre 1947 als Beispiel. Dieser Roman erlaube uns, die aktuelle Pandemie und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen vor dem Hintergrund einer älteren, kulturhistorischen Dimension zu verorten. Der Camus-Klassiker diene zudem als bestes Beispiel, dass darin auch ein grosses Bedürfnis liegt. «Zu Beginn der Corona-Pandemie war das Buch in Frankreich und Deutschland im Nu vergriffen und musste neu aufgelegt werden», sagt Graf. «Es avancierte zum Referenztext par excellence.»
Neuerscheinungen aus der Zentralschweiz: