Von Uri nach Hollywood
«Drii Winter» von Michael Koch wurde zum Schweizer Oscarbeitrag gekürt. Wir haben mit dem Luzerner Filmemacher über ländliche Klischees, Laiendarsteller und Heimatfilme gesprochen.
Sarah Stutte — 08/30/22, 02:00 PM
Der neue Film von Michael Koch spielt in der Urner Bergwelt. (Fotos: Armin Dierolf/Hugofilm)
Das Bundesamt für Kultur hat «Drii Winter» kürzlich zum Schweizer Beitrag für die Oscars ausgewählt. Was macht das mit dir?
Es ist immer wieder interessant, wie die Marke Oscar Wellen schlägt. Selbst, wenn alles noch weit weg ist. Natürlich freuen mich die Reaktionen. Ich bin gespannt, inwiefern die Mitglieder der Academy sich auf die Seh-Erfahrung die «Drii Winter» bietet, einlassen. Und ich hoffe, dass die Wahl zum Schweizer Oscar-Kandidaten beim Kinostart hilft, dass sich die Leute den Film im Kino ansehen. «Drii Winter» ist eine Einladung an das Publikum, sich gute zwei Stunden auf eine eigene Welt, einen eigenen Rhythmus einzulassen. Und das funktioniert nun Mal im Kino besser als vor dem Bildschirm.
Du bist gebürtiger Luzerner. Warum wolltest du diesen Film im Kanton Uri drehen und nicht in deinem Heimatkanton?
Mir war wichtig, nicht das Schweizer Postkartenbild der idyllischen Bergwelt zu wiederholen, das immer wieder in einheimischen Filmen zu sehen ist. Ich wollte eine andere Facette zeigen oder eine andere Landschaft in den Vordergrund rücken. Im Kanton Uri herrscht durch diese engen Täler und steilen Hänge, diese eher raue Natur, nochmals eine andere Energie.
Wie meinst du das?
In anderen Bergkantonen ist heute der Tourismus die Haupteinnahmequelle. Im Kanton Uri leben viele Einheimische noch von der Berglandwirtschaft. Sie beackern das ganze Jahr hinweg das Land, auf dem sie wohnen und sind dadurch eng mit der Natur und der Bergwelt verbunden.
Wie zeigt sich das?
Zum Beispiel, wie die Bevölkerung mit gewissen Dingen umgeht, die im Leben nicht zu kontrollieren sind. Weil sie vielleicht die Erfahrung macht, dass die Natur sich immer wieder der menschlichen Kontrolle entzieht und man sich damit arrangieren muss.
Was hat diese Lebenshaltung für einen Einfluss auf den Film gehabt?
Sie war essentiell für mich bei der Charakterisierung der Hauptfigur. Anna geht auf ihre eigene Art und Weise mit den Herausforderungen um, die ihr das Leben stellt. Sie reagiert nicht hysterisch, bleibt sehr bei sich. Gelassen hinnehmen, was nicht in unserer Macht steht, ist glaube ich eine Qualität, die bei vielen Berglern anzutreffen ist.
Mit seinem zweiten Werk wurde der Luzerner Filmemacher für den Schweizer Beitrag zu den Oscars nominiert.
«Drii Winter» hat, neben der fiktiven Geschichte, einen starken dokumentarischen Charakter. Wie ist diese Verbindung entstanden?
Der ethnologische Blick auf die Gegend war mir von Anfang an wichtig. Eine Dorfgemeinschaft reagiert anders auf die Veränderungen eines ihrer Mitglieder, als dass im städtischen Umfeld der Fall gewesen wäre. Je länger ich während der Recherche vor Ort war, desto stärker wurde die Faszination für die Menschen mit ihren eigenen Geschichten und Lebensentwürfen. Mir wurde klar, dass sie Teil des Films werden sollen. Aber nicht, indem sie Figuren spielen, sondern indem sie mit ihrer eigenen Persönlichkeit den Film bereichern.
Eine reine Dokumentation ist der Film dann aber eben nicht.
Dem dokumentarischen Ansatz habe ich dann eine strenge formale Gestaltung entgegengesetzt. Einerseits durch die kapitelartige, sehr elliptische Struktur des Films, andererseits auch durch die visuelle Gestaltung. Mich interessiert diese Reibung zwischen dem Dokumentarischen und der Stilisierung. In den Proben haben wir verschiedene Dinge ausprobiert, in der Umsetzung dann aber sehr zielgerichtet gearbeitet.
Du warst also stets offen für neue Einflüsse?
Ja. Viele Bilder habe ich in Zusammenarbeit mit der Bergbevölkerung «gefunden». Ich werde gerne überrascht und entdecke dabei Dinge, auf die ich selbst gar nicht gekommen wäre. Ich habe mich sehr von den Menschen und der Landschaft inspirieren lassen. Mit Tieren zu drehen ist ebenfalls interessant, weil sie häufig etwas anderes machen, als das, was du willst. Genauso wie das Wetter, das in den Bergen sehr dominant ist und den Film stark beeinflusst hat. Wir haben es oft auf solche Wetterwechsel ankommen lassen und so Stimmungen gedreht, die einmalig waren.
Auch Luzerner finden im Film eine Rolle. Als Chor.
Was hat es mit dem Chor auf sich, der mehrmals im Film vorkommt?
Der Chor kommentiert durch die Lieder das Geschehen. Auf der anderen Seite ist ein Chor stets wichtig für das Dorfleben und ich fand es interessant, diesen Aspekt nochmals auf einer anderen Ebene zu spiegeln. Die Chorlieder funktionieren ferner als strukturelles Mittel, weil die Geschichte über zwei Jahre hinweg spielt.
Wie findet man einen Filmchor?
Wir haben einen Laienchor gesucht und den «Chor Luzern» gefunden, der sowohl von den Anzahl Mitgliedern her, als auch von den musikalischen Qualitäten sehr gut passte. Das war eine tolle Zusammenarbeit mit sehr engagierten Sängerinnen und Sängern. Letztlich gibt der Chor dem Film eine sehr eigene Note.
Im Film werden immer wieder Nahaufnahmen von Steinen gezeigt. Zementieren diese die drei Winter, die ins Land gehen oder haben sie noch eine andere Bedeutung?
Sie bieten verschiedene Lesarten an. Ich sehe darin in erster Linie ehrwürdige Vertreter der Natur, die uns letztlich alle überleben werden. Und zumindest was die zeitliche Dimension angeht, spielen wir doch eine eher untergeordnete Rolle. Sie stehen auch für die spezifische Topographie der Urner Bergwelt und vervollständigen damit die Porträts der Menschen dort, der klaren Fokussierung auf ihre Gesichter. Die Natur ist wie eine eigene Figur im Film.
Der Film bietet viel Platz für Zärtlichkeit in der rauen Bergwelt.
Es gibt einige sehr bemerkenswerte Bilder in «Drii Winter». Besonders beeindruckt hat mich eine Szene, in der ein Heuballen am Seilzug heruntersaust und plötzlich aus dem Nebel auftaucht. Erst dann sieht man ihn. Vorher hört man nur das Geräusch der Winde. Das hatte etwas sehr Gespenstisches.
Eine Szene, die für das drohende Unheil steht. Man fühlt es nur, weil es irgendwie in der Luft liegt. Das ist ein Bild, das uns geschenkt wurde. Wir haben es an einem nebligen Wintertag gedreht, als die Bergleute Heu-Nachschub brauchten. Wir wussten, wir können diese Szene nur einmal drehen. Erst nach dem zweiten Heuballen lichtet sich der Nebel und man sieht kurz die gegenüberliegende Felswand und findet die Orientierung wieder. Ich finde es beglückend, wenn man solche Momente einfangen kann. Ich habe die Szene später bewusst zu einem Zeitpunkt gesetzt, zu dem der Hauptprotagonist wieder abdriftet und merkt, dass er sich und seine Impulse nicht mehr richtig kontrollieren kann. Es ging darum, Bilder zu finden, die seinen Zustand in dem Moment widerspiegeln.
Du schaffst es auch, der Härte des Landlebens immer wieder zärtliche Momente entgegenzusetzen und damit Klischees zu umgehen.
Die Vorurteile gegenüber Berglern habe ich vor Ort selten angetroffen. Ich habe Menschen kennengelernt, die extrem feinfühlig sowie aufmerksam waren und mit einer grossen menschlichen Intelligenz ausgestattet sind. Das steht vielleicht manchmal im Widerspruch zu ihrem Äusseren. Wenn sie ihr ganzes Leben lang an den steilen Berghängen arbeiten, sehen ihre Körper anders aus, sind davon gezeichnet. Ich finde, solche vermeintlichen Widersprüche machen eine Figur mehrschichtig und authentisch. Und ja, oft werden die Bergler unterschätzt. Es wird schubladisiert, weil man dann das Gefühl hat, die Welt sei dann einfacher zu verstehen. Doch das Leben ist eine Ecke komplexer – und so auch spannender.
Würdest du «Drii Winter» als modernen Heimatfilm bezeichnen?
Ich spiele mit gewissen Mustern eines Heimatfilms, versuche sie aber auch immer wieder zu brechen oder auf eine leicht lakonische Weise zu kommentieren. Der klassische Heimatfilm ist nicht mein Fachgebiet. Da ist meiner Meinung nach die Gefahr relativ gross, dass man Klischees bedient. Letzten Endes war es für mich wirklich der Ort, die Menschen in all ihren Facetten, die mich interessiert haben.
«Drii Winter» läuft ab dem 1. September im Kino.