Die Urner Gemeinde Gurtnellen hat in den letzten 50 Jahren die Hälfte ihrer Einwohnerinnen und Einwohnern verloren. Um das Dorf vor Felsstürzen zu sichern, braucht es Spendengelder von auswärts. Wie es weitergehen soll, weiss niemand so recht.
Thomas Bolli — 09/08/20, 08:58 AM
Die 4½ -Zimmer-Wohnung mit Balkon und Fenstern auf drei Seiten war für
870 Franken pro Monat ausgeschrieben. Inklusive Nebenkosten. Ich habe
sie mir nicht angeschaut. Aber ich wäre gerne «Im Feld»
eingekehrt. Das Gasthaus gefällt, die Aussicht berauscht, das Essen
schmeckte immer vorzüglich. Corona aber – so diktierten der Wirt
und sein Partner im Mai den Medien – habe den Weiterbetrieb
unmöglich gemacht. Sie kündigten 15 Mitarbeitenden. Knapp war es
schon vorher gewesen.
Schwierige Bedingungen
Im Sitzungszimmer des Gemeindehauses von Gurtnellen sind zwei
unterschiedliche Tische aneinandergerückt. «Man fühlt sich von der
Regierung schon etwas alleine gelassen», sagt Verena Tresch, die
Gemeindepräsidentin. Dank der Initiative der Bevölkerung unterhält
die Post immerhin noch eine Zweigstelle im «Seelsorgeraum» an der
Dorfstrasse. Gewerbebetriebe gibt es fast keine mehr, die Bank hat
bereits geschlossen, dem Dorfladen fehlt die grosse Kundschaft.
Verena Tresch steht der Gemeinde seit Anfang 2020 vor. Nicht ganz
freiwillig, denn niemand wollte das Amt übernehmen. Sie aber hatte
schon einmal im Gemeinderat gesessen.
Die Talflanken steigen auf beiden Seiten steil an. Von hier drohen
Felsenstürze, von dort Lawinen. Die Autobahn zieht auf einem Viadukt
dem Hang entlang. 1987 riss die Reuss das Pfarrhaus und einen Teil
des Friedhofs mit. Der tiefste Punkt der Gemeinde liegt 490 m ü. M.,
der höchste auf 3107 m ü. M. Keine einfache Ausgangslage. Oder wie
Strukturpolitiker sagen würden: ein potenzialarmes Dorf.
Weiter oben in Uri, das heisst in Andermatt, baut der ägyptische Investor
Samih Sawiris an seinem Resort als gäbe es kein Morgen. Die Waren in
den Boutiquen werden immer teurer, die Zahl der Gäste mit Maseratis
und ähnlichem Spielzeug hat sich exponentiell erhöht. Gurtnellen
vertraute auf Versprechungen, dass es auch bei ihnen im Dorf aufwärts
gehen werde. Heute leben 531 Personen in Gurtnellen. Vor 15 Jahren,
als Sawiris in Andermatt einstieg, waren es noch 644. Jetzt hoffen
einige, dass wenigstens der Bau der zweiten Strassenröhre durch den
Gotthard mehr Leute bringt. So zieht ein Unternehmer beim Bahnhof
gezielt ein Haus mit kleinen Wohnungen in die Höhe. Kleine Wohnungen
aber sind auf Dauer wenig geeignet für ein solches Dorf, es braucht
Familien, nicht Einzelpersonen, die nur für kurze Zeit hier arbeiten.
«Nein, der Boom durch Samih Sawiris hat uns hier nichts gebracht», sagt
Verena Tresch. Ein Detail, das für Kantonsparlament und
Kantonsregierung nicht von Belang zu sein schien. Sie haben dem
milliardenschweren Investor das Ehrenbürgerrecht zugejubelt für
seine Verdienste um Uris Wirtschaft. Dabei hat der Kanton unter
anderem auf Millionen verzichtet, indem er Samih Sawiris die
Grundstückgewinnsteuer erliess. Nein, Gurtnellen hätte keinen
Grund, Sawiris zum Ehrenbürger zu ernennen.
Etwas Bewegung gibt es touristisch in Gurtnellen aber dennoch: Auf dem
Arni, einer idyllischen Sonnenterasse mit kleinem See auf fast 1400
Metern über Meer, sind neue Ferienhäuser geplant. Das Projekt einer
Urner Immobilienfirma wird zurzeit durch Einsprachen verzögert. Das
Gebiet ist reizvoll, durch zwei Luftseilbähnli gut erschlossen und
zum Wandern fast paradiesisch. Und wo kann man im Winter schon durch
Löcher unters Eis tauchen? Ja, da hat Gurtnellen durchaus
Potenzial.
«Dauernd auf der Suche nach Geld»
Das ändert nichts daran, dass kleinen, strukturschwachen Gemeinden oft
das Geld fehlt. So auch in Gurtnellen. Der innerkantonale
Finanzausgleich unterstützt nur beschränkt, zudem zahlen nicht alle
im Dorf ihre Steuern – weil sie nicht können oder nicht wollen.
Wie an vielen Orten belastet die wirtschaftliche Sozialhilfe die
Kasse überaus stark. Die Verschuldung pro Kopf ist schon jetzt
überdurchschnittlich hoch, ebenso der Steuerfuss.
Obwohl sich der Kanton beispielsweise an den Kosten für die Reparaturen an
der riesigen Lawinenverbauung am Geissberg beteiligt, strapazieren
die Aufwendungen die Gemeindefinanzen sehr. Auch für die
Instandstellung der Wasserversorgung ist Gurtnellen auf Hilfsgelder
angewiesen. So hat die Gemeinde bis Ende 2019 von Bund, Kanton und
Korporation Uri bereits 140‘000 Franken erhalten. Die
Organisation Patenschaft für Berggemeinden hat
gleichzeitig 685‘000 Franken an Spendengeldern für die neue
Wasserversorgung geschickt. Das sichert das Überleben der Gemeinde –
und dafür ist sie dankbar.
Die Probleme sind damit nicht gelöst. Im Juni vor einem Jahr ging vom
Osthang ein Murgang nieder. Die Schlamm- und Gerölllawine bahnte
sich einen Weg durchs Siedlungsgebiet über die Kantonsstrasse bis
zum Schulhaus. Der Bund schützt in diesem Gebiet die
Gotthardautobahn mit einem neuen Damm. Das nützt dem Dorfteil
Gurtnellen-Wiler nichts. Er liegt unterhalb des für Schlammlawinen
und Felsstürze durchlässigen Autobahnviadukts und braucht einen
zusätzlichen Damm. Kostenpunkt: 368'000 Franken. Bund und Kanton
übernehmen 70 Prozent, aber es bleiben der Gemeinde 110'000 Franken.
Auch hier versucht die Patenschaft für Berggemeinden zu
helfen. «Wir sind dauernd auf der Suche nach Geld», sagt
Gemeindepräsidentin Verena Tresch.
Blick mit Lawinenverbauung vom Taghorn auf den Dorfteil Gurtnellen-Dorf.
Er schweigt
Gurtnellen sowie die Nachbargemeinden Göschenen und Wassen haben sich vor
Jahren zur Kreisschule Urner Oberland zusammengetan.
In Gurtnellen selber hat es drei Schulhäuser. Eines steht bereits
leer, es fehlen die Jungen. Der Kindergarten ist in Göschenen, die
Primarschüler sind auf die drei Dörfer im oberen Reusstal verteilt,
die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe werden in Gurtnellen
unterrichtet. Wenn sich die Situation nicht ändert, wird in
absehbarer Zeit ein weiteres Schulhaus geschlossen werden
müssen.
Gurtnellen, Göschenen und Wassen stehen vor ähnlichen Problemen:
überdurchschnittlicher Rückgang der Einwohnerzahlen, eher tiefer
sozialer Status der Bevölkerung, tendenzielle Überalterung,
geringes Entwicklungspotential. «Auf längere Sicht kann eine Fusion
nicht ausgeschlossen werden», sagt Verena Tresch. In Uri gibt es
seit einigen Jahren Pläne für weitreichende Gemeindefusionen.
In der Kantonsregierung sitzt Beat Jörg, Bildungs- und Kulturdirektor.
Er wohnt in Gurtnellen, ist Bürger von Gurtnellen und war unter
anderem während 12 Jahren Gemeindepräsident. Wenn man im Dorf
herumfragt, ob man davon profitiere, dass jetzt ein Gurtneller in der
Kantonsregierung mitredet, lautet die Antwort «eher nein». Zum
Zustand seiner Gemeinde will sich Beat Jörg gegenüber mir, dem
fragenden Journalisten, nicht äussern. Schriftlich teilte er mit:
«Ich finde es in meiner politischen Funktion nicht sinnvoll, Ihnen
als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen. Eine klare Trennung
zwischen Gemeinde und Kanton scheint mir kaum möglich.»
Punkt.
Brutal dazwischen
Die meisten Gurtnellerinnen und Gurtneller arbeiten auswärts. Sechs sind
in der ortsansässigen Schmelzmetall AG angestellt. Die Firma
produziert Hochleistungswerkstoffe auf Kupferbasis, unter anderem für
die Raumfahrt. Sie ist mit 24 Angestellten der grösste Arbeitgeber
in der Gemeinde. Am Ende des 19. Jahrhunderts sah das noch ganz
anders aus. Da hatte die Bevölkerung stark zugenommen wegen des Baus
der Gotthard-Eisenbahn, den Granitsteinbrüchen und einer
elektrochemischen Fabrik. Mächtige Häuser aus dieser Zeit prägen
das Bild rund um den Bahnhof, wo schon lange keine Züge mehr halten.
Vor 100 Jahren zählte Gurtnellen 1648 Einwohnerinnen und Einwohner,
also drei Mal so viele wie heute.
Immerhin hat in Gurtnellen-Dorf, dem auf einer Terrasse erhöht liegenden
Dorfteil, die Bergheimatschule für angehende Bergbäuerinnen wieder
geöffnet. Die Vereine sind sehr aktiv, die Theatergruppe, der
Faschingclub, die Armbrustschützen, die Brass Band, der Skiclub
Geissberg, die Cäcilienvereine Dorf und Wiler, die Guggenmusik. Aber
ein Rezept für Gurtnellens Zukunft? Für ein Dorf, das so schwierig
zwischen dem wirtschaftlich aufblühenden Andermatt und dem
prosperierenden Kantonszentrum rund um den Hauptort Altdorf liegt?
Eine Gemeinde, die stets umrauscht ist von der Reuss und dem
Transitverkehr auf der Gotthardautobahn? Weder Verena Tresch noch
sonst eine der befragten Personen hat ein Rezept. Die Lösung müsse
langsam wachsen, sagt einer. «Vielleicht bringt so ein Artikel neue
Ideen», sagt die Gemeindepräsidentin. Hoffen kann man ja.
Thomas Bolli lebt bei Luzern, ist freier Journalist und hat lange in Uri gearbeitet.
Zuvor hatte er während 10 Jahren für den Tages-Anzeiger über die
Zentralschweiz berichtet. Kultz.ch ist für ihn: «Eine grossartige
Initiative, eine Bereicherung für die Region.»