Konsequent und penetrant
Noemi Grütter ist Feministin und Klimaaktivistin. Dabei schreckt sie auch vor maximaler Radikalität nicht zurück. Wir haben die junge Frau aus Dallenwil zum Kaffee getroffen.
Jonas Wydler — 10/03/23, 04:11 PM
Noemi Grütter ist in Dallenwil aufgewachsen, in der Welt aber bereits gut herumgekommen. (Fotos: zvg)
Für Noemi Grütter gibt es kein Leben neben dem Feminismus. Deshalb verfügt sie über einen Werdegang, der seinesgleichen sucht. Ihr Kampf für eine gerechtere Welt führte sie schon nach Kolumbien oder Ruanda. Sie hielt Reden in New York und war eine treibende Kraft hinter dem neuen Sexualstrafrecht.
Nun will sie ihren politischen Tatendrang im Klimaaktivismus einbringen. Auch mit extremen Mitteln, wenn es sein muss. Was treibt Noemi Grütter an?
Sie teile ihre Meinung «immer und überall» mit, sagte sie einmal über sich. Deshalb die Frage: Kann man mit Noemi einen Kaffee trinken, ohne über Feminismus zu reden? «Nein!», sagt die 28-Jährige bestimmt und lacht. «Feminismus hat so viel mit meiner Identität zu tun, dass er immer irgendwann zum Thema wird.»
Ich treffe Noemi also zum Kaffee, um mit ihr über Feminismus zu reden. Über ihren atemlosen Aktivismus, ihr radikales Weltbild und ihren ruhelosen Lebensstil. «Save the World with Feminism», sagt ihr Whatsapp-Profilbild.
Sie wolle nicht dauernd alle belehren, sagt sie. Also auch nicht missionieren? «Doch, das schon», sagt sie – und wieder ist da ihr entwaffnendes Lachen. Dass sie Leute mit ihrer Penetranz nervt, nimmt sie in Kauf. Aktionismus muss weh tun, findet sie.
Feminismus ist für sie ein omnipräsentes Thema.
Ihre heutige Denke hat auch mit ihrer Herkunft zu tun. Noemi ist im konservativen 1500-Seelen-Dorf Dallenwil in einem progressiven Haushalt mit fünf Frauen und einem «grundsätzlich feministischen Vater» aufgewachsen. Ihre Neugierde für Themen rund um Frauenrechte, Rollenbilder und Lebensmodelle war früh geweckt. Denn: «Was ich zuhause mitbekommen habe, war so anders als das, was ich sonst im Alltag sah. Das hat mich verwirrt. Ich suchte nach Antworten und es entwickelte sich eine Wut in mir.»
Diese Wut machte Noemi zur Weltenbummlerin. Als 19-Jährige reiste sie nach der Matura allein nach Südamerika und engagierte sich etwa für Teenager-Mütter in Kolumbien. Sie hat in Paris und Genf gelebt und studiert, hat 2016 in New York an der Uno-Frauenkonferenz eine viel beachtete Rede gehalten. Seit Kurzem ist sie wieder in Luzern zu Hause, aber nicht für lange. Die Zentralschweiz sei ihre Basis, aber sesshaft war sie nie. Wohin es sie als nächstes ziehen wird, weiss sie noch nicht.
Doch ist sie bloss eine Revolutionsromantikerin oder hat ihr Engagement tatsächlich Spuren hinterlassen? Sie hat durchaus etwas bewegt: Bei Amnesty International war Noemi eine der treibenden Kräfte hinter der Kampagne für das neue Sexualstrafrecht, auf das sich das Parlament diesen Sommer geeinigt hat. Das «Nein heisst Nein»-Prinzip wird im Schweizer Gesetz verankert. Sie spricht von ihrem bisher wichtigsten Kampf. «Das gab mir für meine Zukunft sehr viel Hoffnung und zeigt, was möglich ist, wenn man genug Lärm macht, Durchhaltevermögen zeigt und zusammenarbeitet.»
«Ich will den Feminismus noch ganzheitlicher betrachten und dessen Werte in den Bereich Klimaschutz integrieren.»
Zuletzt hat sie ein Jahr in Ruanda für die Uno in Sachen Frauenrechte und sexuelle sowie reproduktive Gesundheit gearbeitet. Den begehrten Job hat sie nach einem Jahr wieder hingeschmissen. Westliche Entwicklungshilfe und Hilfswerke sieht sie inzwischen kritisch – spricht gar von Neokolonialismus. «Letztlich geht es oft darum, die Länder des globalen Südens ökonomisch zu stärken, Einfluss und Abhängigkeit zu generieren, um mehr Handel und letztlich Profit zu erzielen.»
Aktuell engagiert sie sich in der Intersektion von Klimagerechtigkeit und Frauenrechten – ihren beiden grossen Themen. Sie ist die Co-Präsidentin des Vereins Sexuelle Gesundheit Schweiz und arbeitet als Koordinatorin bei der Global Alliance for Green and Gender Action. Sie liest viel über feministische Theorien und tauscht sich international mit Netzwerken aus. «Ich will den Feminismus noch ganzheitlicher betrachten und dessen Werte in den Bereich Klimaschutz integrieren.»
Die Formen des Protests dürfen für Noemi auch radikale Formen annehmen.
«Ihre» Themen gehören laut einer aktuellen SRG-Umfrage zu den grössten Ärgernissen der Bevölkerung – Stichworte Klimakleber, Genderdebatte oder Wokeness. Sie ist das personifizierte Feindbild der SVP. Das weiss sie – und es ist ihr egal.
Vor vier Jahren prägten der Frauenstreik und der Klimastreik die nationalen Wahlen – seither ist das Parlament so grün und weiblich wie noch nie. Im Oktober dürfte das Pendel zurückschlagen – Noemi verliert ihre Hoffnung trotzdem nicht. «Ich habe gelernt, dass tiefgreifende Veränderungen Zeit brauchen.» Rückschritte würden aus einer Angsthaltung heraus passieren. «Konservative Kräfte erleben nur einen Aufschwung, weil sich in unserer Gesellschaft etwas verändert. Es geht in die richtige Richtung.»
«Es ist so wichtig, dass wir Utopien verankern und junge Leute träumen lassen.»
Unser Gespräch dreht sich um traditionelle Rollenbilder und Familienmodelle. Noemi würde am liebsten alle gesellschaftlichen Fesseln sprengen. Dennoch denkt sie nicht nur radikal und konsequent, sondern auch selbstkritisch und hinterfragend.
Es gibt die utopische, philosophische und träumerische Seite von ihr, die sie aus Büchern, Kunst, Theorien und Kontakten zu anderen Aktivist*innen nährt. Und daraus schöpft sie Mut, Inspiration und Optimismus, dass es letztlich gut kommen wird und muss. «Es ist so wichtig, dass wir Utopien verankern und junge Leute träumen lassen.»
Noemi ist von der Kraft des Widerstands überzeugt.
Die andere Seite ist die radikale – Wut, Widerstand, ja sogar Gewalt. Wie weit darf Klimaprotest gehen? Wo andere abwiegeln, ist ihre Meinung klar: So weit wie nötig. Es brauche alle Arten von Aktivismus, «auch den radikalen, der hässig macht». Dieser öffne erst den Weg für soften Aktivismus, Diplomatie und Gespräche. Und: «Auch mit Utopien macht man Leute hässig», sagt sie.
Für sie klar: Der Widerstand wird nicht mehr zu stoppen sein, werde noch heftiger, gewaltvoller und polarisierter. Auch gewaltvolle Bewegungen findet sie in gewissen Kontexten in Ordnung. «Wir stecken in einer kompletten Notsituation. Die Aktionen dürfen so radikal sein wie nötig sein.»
«Je mehr Fakten ich kenne, desto grösser der Horror.»
Wie gelingt es ihr, inmitten von Wetterextremen und Hitzerekorden nicht die Hoffnung zu verlieren? «Die Menschheit wird nicht überleben können, wenn wir das System nicht ändern», sagt sie. Es bleibe keine andere Option, als aktiv zu werden. «Je mehr Fakten ich kenne, desto grösser der Horror», gibt sie zu. «Und trotzdem sehe ich so viele Lösungen, wenn ich mit Aktivist*innen des globalen Südens zusammenarbeite. Das gibt mir Hoffnung.»
Dass sie sich irgendwann mässigen werde, wie andere, die als junge Menschen ein radikales Weltbild predigen, hört sie oft – und es stört sie extrem. Denn das Gegenteil ist der Fall. Je tiefer sie sich mit den Themen auseinandersetzt, desto konsequenter und radikaler ihre Sichtweise. «Ich habe Mühe mit der Ansicht, dass man im Alter mehr wisse. Expertise hängt nicht nur von Lebenserfahrung ab.»
Traum von einer Familie
Für Noemi gibt es längst kein Leben mehr neben dem Feminismus und Aktivismus – auch privat. Darum beschäftigt es sie, wie sie den Feminismus in Liebesbeziehungen leben kann. «Ich will diese Werte ausleben», sagt sie. Dazu gehöre die Frage, wie sie romantische Liebe leben will – und was Liebe bedeutet in der kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft. «Ich will Raum schaffen für andere Arten von Beziehungen», sagt sie.
Und irgendwann möchte sie selbst Kinder – vielleicht sogar mal sesshaft werden. «Eine eigene Familie ist ein Wunsch», sagt sie. Aber will sie die wenig vielversprechende Zukunft ihren Kindern tatsächlich zumuten? «Das Leben hat so viel Lebenswertes und Schönes – das gebe ich gerne weiter.» Kinder zu haben sieht sie per se als etwas Egoistisches: «Ich bin so fasziniert von Schwangerschaften und Geburten und will den Prozess selbst durchleben und mit einem Kind die Welt neu entdecken.»