Patriarchaler Ursport
Frauen haben im Schwingsport einen schweren Stand. Doch ihr Kampf um Gleichberechtigung trägt langsam Früchte. Dumme Sprüche kriegen sie dennoch zu hören.
Lisa Kwasny — 05/30/23, 02:42 PM
In den 1980er-Jahren sorgte das noch für einen Skandal: Mädchen in Schwinghosen. (Fotos: Lisa Kwasny)
«Läng ehre a Grend!», rufts aus dem Publikum. Eine Schwingerin im Edelweisshemd steht auf dem Sägemehl und versucht ihre Gegnerin, die doppelt so gross und doppelt so schwer ist wie sie, auf den Rücken zu bringen. Die Schwingerin im Edelweisshemd scheint den Ratschlag aus den Rängen gehört zu haben. Sie fasst ihrer Gegnerin an den Kopf und zieht ihr den Fuss unter dem Körper weg.
Auf dem Boden liegend ringen sie miteinander, die Gesichter sind rot und schmerzverzerrt, dann geht alles sehr schnell. Die Schwingerin im Edelweisshemd legt ihre körperlich überlegene Kontrahentin auf den Rücken und gewinnt. Schlussendlich entscheidet nicht nur Kraft, sondern auch Technik. Die Siegerin wischt der Besiegten das Sägemehl vom Rücken, während die Ländlermusik vom Applaus übertönt wird.
Abseits der grossen Öffentlichkeit finden immer mehr Frauenschwingfeste statt. So auch im aargauischen Oftringen.
Ich bin am Meitli- und Frauenschwingfest in Oftringen, Aargau. Der kleine Anlass findet im Garten eines Restaurants statt. Es gibt keine Tribünen und der Schwingplatz ist etwas schräg im Hang. Es ist ein Bild das zeigt, dass auch im Schweizer Ursport Frauen weniger Anerkennung erhalten als Männer.
Zum Vergleich: Als in Pratteln letztes Jahr der neue Schwingerkönig gekürt wurde, war die Arena mit 50’900 Zuschauer:innen ausverkauft. Das sind mehr Leute als bei jedem Schweizer Fussballspiel. Schwinger haben seit der Jahrtausendwende an Beliebtheit gewonnen. Sie sind ländliche Volkshelden mit Werbeverträgen für Autos, Uhren und Käse. Der Sport hat eine Kommerzialisierung durchlaufen und ist zum lukrativen Geschäft geworden.
Das Eidgenössische Schwingfest der Herren ist der grösste wiederkehrende Sportanlass der Schweiz.
Davon ist im Restaurantgarten in Oftringen nichts zu spüren. Denn Frauenförderung ist im Schwingsport eher Nebenschauplatz. Vielmehr haben Schwingerinnen immer noch mit stereotypischen Vorurteilen zu kämpfen.
Messer im Sägemehl
An diesem windigen Samstag im Mai sind 122 kleine und grosse Schwinger:innen angereist, um gegeneinander anzutreten. Beim jüngsten Jahrgang dürfen auch Buben mitschwingen, ab 16 Jahren schwingen nur Frauen. Auf dem Gabentisch liegen Preise mit bescheidenem monetären Wert. Für Carmen Inderbitzin ist das kein Problem. «Jede Gabe hat einen emotionalen Wert, der Preis spielt keine Rolle», sagt die ehemalige Trainerin beim Frauenschwingclub der Urschweiz.
Für Carmen Inderbitzin ist Schwingen mehr als bloss eine Sportart.
Für Carmen ist Schwingen weit mehr als nur Sport: «Es ist ein Lebensgefühl.» Sie schwärmt vom Netzwerk und Zusammenhalt, von der Fairness im Kampf und den Festen, wo man unter Freunden ist. Das alles geschieht fernab der Städte (eine aussergewöhnliche Ausnahme bildete das «Reitgenössische Schwingfest» in der Berner Reitschule). Schwingen ist im ruralen Raum verankert, Schwingfeste sind auch immer ein Zusammenkommen der ländlichen Bevölkerung in traditionell-schweizerischem Umfeld.
Doch auf dem Land sind konservative Werte weit verbreitet. Das hat vielen Frauen den Einstieg in den Schwingsport erschwert oder lange auch verwehrt. Organisiertes Frauenschwingen gibt es erst seit gut 40 Jahren. 1980 fand im Berner Oberland das erste Frauenschwingfest statt – mit patriarchalischen Begleiterscheinungen. Wie einem SRF-Zeitdokument zu entnehmen ist, wurde gedroht, Messer im Sägemehl zu verstecken, damit sich die Mädchen verletzten.
Das erste Frauenschwingfest fand 1980 in Aeschi bei Spiez im Berner Oberland statt.
Es blieb bei leeren Drohungen, das Fest stiess auf grosses Interesse bei der Bevölkerung. Seither setzen sich Frauen und Männer dafür ein, dass auch Frauen in die Zwilchhose steigen dürfen.
Wunsch nach mehr Schwingerinnen
Es sind Bemühungen, die inzwischen gefruchtet haben. Der Beweis dafür ist zum Beispiel Michèle Eicher. Seit 12 Jahren ist sie Schwingerin. Angefangen hat sie, weil ihr Bruder unbedingt an ein Schwingfest gehen wollte. Die beiden kommen nicht aus einer Schwingerfamilie und kannten den Sport vorher nur vom Hörensagen. Ihrem Bruder hat der Kampf im Sägemehl dann doch nicht so zugesagt, ihr dafür umso mehr.
Anfangs hat Michèle bei den Jungen mittrainiert, dann hat sie erfahren, dass in Arth-Goldau und Einsiedeln auch noch andere Mädchen trainieren, so hat sie zum Frauenschwingclub der Urschweiz gefunden.
Michèle Eicher (rechts) schwingt bereits seit 12 Jahren und ist auf ihre Trainingspartnerin Evelin Linggi nicht wütend, obwohl diese ihr einmal ein blaues Auge verpasst hat.
Der Frauenschwingclub Urschweiz wurde 1995 als Trainingsgemeinschaft gegründet, seit 2017 ist er offiziell ein Club. Aktuell trainieren etwa 15 junge Frauen und Mädchen. Die Kleinsten sind zwischen 7 und 10 Jahre alt. Werden die Mädchen älter, verlassen viele davon den Verein. Die meisten steigen aus, wenn Lehre oder Beruf dem Hobby die Zeit nehmen. In der Schweiz schwingen 40 bis 50 Frauen aktiv, bei den unter 16-Jährigen sind es rund 100 Mädchen. «Es wäre schön, wenn mehr Frauen schwingen würden», sagt Michèle. «Aber es ist schwer, darauf Einfluss zu nehmen.»
Dass weniger Frauen schwingen, hängt definitiv mit Geschlechterstereotypen zusammen. Schwingen wird immer noch als typischer Männersport gesehen, denn er ist brutal. Von der Härte des Sports konnte ich mich bei einem Training in Arth-Goldau überzeugen lassen. Nach Aufwärmtraining und Dehnübungen, bei denen vor allem der stark belastete Nacken vorbereitet wird, wird in 2er-Gruppen trainiert.
«Beim Schwingen härtet man sich ab, das finde ich gut. Das gibt einem Selbstbewusstsein und ist eine Lebensschule.»
Carmen Inderbitzin
Es gibt viel Körperkontakt und man drückt einander auf den Boden. Michèle hat vom letzten Training ein blaues Auge davongetragen, denn sie hat einen Ellbogen ihrer Trainingspartnerin abbekommen. «Beim Schwingen härtet man sich ab, das finde ich gut», sagt Trainerin Carmen, «es gibt einem Selbstbewusstsein und ist eine Lebensschule.»
Brutal ist es für alle
Zurück am Frauenschwingfest in Oftringen. Dass sich Frauen abhärten wollen, ist für viele unverständlich. Davon weiss Daniel Jenni zu berichten. Er hat selbst geschwungen und trainiert heute seine Tochter. «Es gibt auch heute noch viele alte Männer, die Frauen nicht gerne im Schwingsport sehen», sagt er.
Daniel Jenni ist ehemaliger Schwinger. Heute trainiert er seine Tochter.
Es ist ein merkwürdiger Widerspruch in konservativen Wertvorstellungen. Denn gerade in ländlicher Umgebung haben Bauernfrauen immer schon harte körperliche Arbeit geleistet. Dennoch sind gerade da sexistische Stereotype der sensiblen, schwachen Frau weit verbreitet.
Mit solchen Vorurteilen hat auch der Frauenschwingclub Urschweiz zu kämpfen. Als Carmen Inderbitzin angefangen hat zu schwingen, haben einige Männer und auch Frauen mit Unverständnis reagiert: «Sie sagten, der Sport sei zu hart für Frauen», sagt sie. Aber Carmen kann sich wehren: «Es ist für jeden brutal, ob Mann oder Frau.»
«Ich bin ein Bauernmädchen, kein Modepüppchen. Für mich gab es nie etwas anderes.»
Andrea, Schwingerin
Auch Andrea hat Erfahrungen mit Geschlechterstereotypen gemacht, bei ihr kamen die negativen Reaktionen aber vor allem von Frauen. Andrea ist in einer Schwingerfamilie aufgewachsen, auch ihre Brüder schwingen. Für sie war es klar, dass auch sie als Mädchen den Sport ausüben will. Die Mädchen ihrer Klasse aber sagten, Schwingen sei ein Männersport. Andrea hat aber trotzdem ihr Ding durchgezogen. Grund dafür sieht sich auch in ihrer Herkunft: «Ich bin ein Bauernmädchen, kein Modepüppchen», sagt sie stolz, «für mich gab es nie etwas anderes.»
Doch die unermüdlichen Kämpfe um Gleichberechtigung haben auch im ländlichen Raum zu einem Umdenken geführt: «Manchmal muss man sich Sprüche anhören», sagt Carmen, «aber vor 10 oder 20 Jahren war es noch viel schlimmer». Sie betont, dass der Grossteil der Männer kooperativ ist und ihnen gerne hilft, wenn sie ein Schwingfest veranstalten. Auch zwischen dem eidgenössischen Frauen- und dem eidgenössischen Männerverband findet ein reger Austausch statt. Zudem sind in den Männertrainings oft auch Frauen willkommen.
Trotzdem zeigt sich ein strukturelles Problem. Die Frauen sind vom guten Willen der Männer abhängig, denn diese haben die Ressourcen. Der Schwingkeller, in dem der Frauenschwingclub Urschweiz trainiert, gehört einem Männerschwingverein und die Infrastruktur für die Schwingfeste meistens auch.
Schwingen ist eine raue Sportart. Das Geschlecht spielt dabei keine Rolle.
Warum wird diese Trennung aufrechterhalten? Warum gibt es nicht einfach Schwingclubs, die Frauen- und Männergruppen haben und in denen gleiches Mitspracherecht herrscht?
Darauf erhalte ich schlussendlich keine befriedigende Antwort. Obwohl es in der Schwingersektion Hergiswil bereits gleiches Mitspracherecht für Frauen und Männer gibt, sehen es viele der befragten Personen als unrealistisch an, dass sich alle Männerschwingclubs so öffnen.
Obwohl sie immer noch mit Vorurteilen konfrontiert werden, haben die Frauen vom Frauenschwingclub Urschweiz die Hosen nicht an den Nagel gehängt.
Die Hierarchie zwischen Männern und Frauen wird wohl noch eine Weile fortdauern. Es gibt aber Hoffnung, dass sich diese in den nächsten Jahren abbauen wird. Die Buben am Schwingfest in Oftringen wachsen mit starken, kämpferischen Frauen auf. Und in ein paar Jahren wird es normal sein, dass auch Frauen schwingen.
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