Freiraum
Die Industriestrasse 9 gilt als autonomes Herz Luzerns. Doch das Haus steht vor einer ungewissen Zukunft.
Lisa Kwasny — 05/02/23, 01:55 PM
Die Industriestrasse 9 bietet der alternativen Szene seit über 20 Jahren Freiraum. (Fotos: Lisa Kwasny)
Refugees are welcome, Antifaschismus und Eichwäldli bleibt: Die Stickersammlung auf dem Briefkasten der Industriestrasse 9 lässt keinen Zweifel über die politische Gesinnung der Bewohner:innen. Das 120 Jahre alte Gebäude war früher einmal ein Käselager. Heute ist es eine der letzten linksalternativen Bastionen Luzerns.
«Keine Vertreibung der Kultur!» steht beim Tor zum Innenhof. Wenn man an einem sonnigen Tag durch dieses tritt und die Bäume blühen, wenn man durch den Garten geht und auf einem Sofa hinter dem Haus Platz nimmt, dann lässt das linke Herzen höher schlagen. Es ist schön hier, heimelig und gleichzeitig widerständig.
Der Innenhof bewegt sich zwischen Naturidylle und DIY-Romantik.
Und gleichzeitig ist die Industriestrasse 9 zum Ort geworden, an dem linke Herzen derzeit bluten. Denn dem ganzen Industrieareal zwischen den bahnhofsnahen Zuggleisen und dem Geissensteinring steht eine grosse Umwandlung bevor. Einige Häuser müssen Neubauten weichen, andere sollen umfänglich saniert werden. So auch die Hausnummer 9. In einem Jahr sollen die Bauarbeiten beginnen. Was bedeutet das für die Luzerner Alternativszene?
«Emotionale Katastrophe»
Die Industriestrasse 9 ist ein autonom verwalteter Raum mit einer grossen Wohngemeinschaft und drei kleineren Wohnungen, einer Werkstatt und viel Platz für Musik, Essen und Feste. Geht es um die Zukunft der Liegenschaft, herrscht bei den Bewohner:innen jedoch keine Feierlaune.
«Seit ich hier wohne, musste ich mich immer wieder mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass es das Projekt bald nicht mehr gibt.»
Eva, längjährige Indu-Bewohnerin
Eva wohnt seit 20 Jahren hier, nun wird eine alte Angst Realität: «Seit ich hier wohne, musste ich mich immer wieder mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass es das Projekt bald nicht mehr gibt.» Bedrücktes Schweigen herrscht in der Runde, wenn das Thema angesprochen wird. «Das Ende wird eine emotionale Katastrophe», sagt Orpheo, der dem Haus als ehemaliger Bewohner oder Konzertorganisator im Keller seit über 20 Jahren verbunden ist.
Sie sind eine Gemeinschaft mit ungewisser Zukunft: Die Bewohner:innen der Industriestrasse 9.
Die Industriestrasse 9 ist ein kleiner Teil eines alternativen Mosaiks, das sich im Industrieareal im Geissensteinring zusammenfügt. Es ist geprägt von alten Häusern mit bröckeligem Verputz und Lagerhallen mit rostigen Metalldächern. In seinen Winkeln sind spannende Dinge zu entdecken. In einigen Häusern sind Ateliers einquartiert, es gibt einen Secondhandladen, einen Wrestling-Trainingsraum und Veranstaltungsräume. Doch die Häuser sind teilweise in desolatem Zustand.
In einem Jahr beginnen auf dem Areal die Bauarbeiten.
Hier kommt die «Kooperation Industriestrasse» ins Spiel. Sie leitet das grossangelegte Sanierungs- und Neubauprojekt. Auf dem Areal soll gemeinnütziger Wohn-, Arbeits-, und Kulturraum geschaffen werden. Was auf dem Papier vielversprechend klingt, sorgt in der Realität für Spannungen. Das zeigt das Beispiel der Industriestrasse 9.
Gefährdete Autonomie
Lange wurde davon ausgegangen, dass das Haus abgerissen wird. So wurden bauliche Massnahmen wie eine moderne Wärmedämmung aufgeschoben. Erst 2017 wurde die marode Liegenschaft von der Stadt als erhaltenswert eingestuft. Wie nun aber saniert werden soll, darüber scheiden sich die Geister.
Die Mietpreise werden nach abgeschlossener Sanierung steigen.
Die Bewohner:innen hätten die Sanierung gern teilweise selbst in die Hand genommen. Dies mit einem konkreten Hintergedanken: Autonomie wahren und dadurch Einfluss auf steigende Mietkosten nehmen können. Soweit ist es jedoch nicht gekommen. Denn das hätte langwierige Verhandlungen mit der «Gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaft Industriestrasse (GWI)» vorausgesetzt, die für die Liegenschaft zuständig ist. Ob danach genug Spontanität übrig geblieben wäre, die für die Alternativkultur so wichtig ist, bleibt fraglich.
«Es wird nicht mehr sein wie vorher und die Mieten werden unumgänglich steigen.»
Pascal Hofer, GWI-Vorstandspräsident
Das sorgte für interne Spaltungen. Einige Bewohner:innen unterstützen die Vision der GWI und finden den Umbau eine gute Lösung. Andere fühlen sich vertrieben. GWI-Vorstandspräsident Pascal Hofer zeigt dafür Verständnis. «Es wird nicht mehr sein wie vorher und die Mieten werden unumgänglich steigen.» Das hat einen konkreten Grund: Für den Umbau muss Fremdkapital aufgenommen werden. «Das schlägt sich auf den Mietzins nieder», sagt Hofer.
Die Boa im Hinterkopf
Gegner:innen des Projekts sehen dadurch autonome Lebensweisen durch institutionalisierte linke Wohnräume verdrängt. So bemängeln sie beispielsweise auch, dass sie während dem Umbau nicht im Haus wohnen können. Zwar wurde ihnen von der GWI eine Übergangslösung an der Unterlachenstrasse angeboten, doch laut Hofer wurde diese abgelehnt.
Mindestens in einem Punkt sind sich alle einig: Sanierungen wären nicht für die Katz.
Ist diese linksautonome Skepsis gegenüber baulicher Veränderung angebracht oder doch etwas übertrieben? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass sich Freiraum selten am Reissbrett planen lässt und in Luzern nicht immer gleichwertig ersetzt wurde. Das bekannteste Beispiel ist der Südpol, der als Ersatz der legendären Boa gebaut wurde, in Teilen der linken Alternativszene aber immer noch nicht als solcher akzeptiert wird.
Während Theater nicht spülen!
Die Industriestrasse 9 ist ein Überbleibsel der wilden 80er- und 90er-Jahre. Damals revoltierte die Jugend gegen die starren Gesellschaftsstrukturen, sie forderte Raum für alternative Kultur, Punks und Linksalternative demonstrierten auf den Strassen, die Szene florierte.
Im Keller der Industriestrasse 9 finden regelmässig Anlässe statt.
Weil der Besitzer keine Verwendung für das alte Haus an der Industriestrasse 9 hatte, konnte ein autonomer Ort entstehen. Es entstand Platz, um sich auszuleben, der Keller wurde bald zum Veranstaltungsraum, der Rossstall im Nebengebäude zur Beiz und brachliegende Räume zu Wohnraum ausgebaut.
Viele Personen, die in der Boa aktiv waren, wohnten damals in der Indu und Bands, die in der Boa spielten, fanden hier ein Bett. Die Indu war aber auch mit vielen weiteren kulturellen und sozialen Institutionen in Luzern verknüpft. Der Estrich wurde eine Zeit lang vom Fumetto als Lager benutzt, die Gassenküche war während 10 Jahren in einem Raum zwischen dem ehemaligen Rossstall und dem Haus einquartiert.
In der Industriestrasse ist politisches Bewusstsein mehr als bloss Fassade.
Und dann war da auch noch das Figurentheater. Die Aufführungen mit den animierten Puppen waren regelmässig gut besucht. Sie zeigten aber auch, dass es nicht immer einfach war, auf so engem Raum zu arbeiten, wie Zeitzeug:innen berichten. Wenn eine Theateraufführung stattfand, durfte in der Wohnung oben weder Dusche noch Toilette benutzt werden, denn der Raum war zu hellhörig. Das Figurentheater ist inzwischen ausgezogen. Dem Ensemble war zu unklar, wann der letzte Vorhang fällt.
Nachwuchshoffnungen
Nun steht das Haus also vor einer ungewissen Zukunft. Dennoch nimmt die Apathie hier nicht überhand. Man spürt, dass die Bewohner:innen gern hier sind, der Umgang ist sehr herzlich und gemeinschaftlich, es wird viel gescherzt und gelacht. Es scheint so, dass sie das letzte Jahr noch geniessen möchten.
«Natürlich hätte ich gerne, dass alles so bleibt.»
Orpheo, langjähriger Indu-Bewohner
Und für Apathie gibt es im Haus auch einfach zu viel zu tun. Gerade muss das Dach geflickt werden und am Abend findet ein Konzert im Keller statt. Und dann ist da irgendwie auch der Reiz einer neuen Zukunft. «Natürlich hätte ich gerne, dass alles so bleibt», sagt Orpheo, «aber so ist es halt nicht und ich finde die Lösung mit dem Areal gar nicht so schlecht».
Trotz der Angst, dass bald alles zu Ende sein könnte, besteht auch ein Funke Hoffnung. Vielleicht kommen nach der Sanierung neue Menschen ins Haus und führen die Autonomie weiter. Funken der Hoffnung wurden bereits versprüht. Zum Beispiel, als vor Kurzem im Keller Prix Garanti oder Ester Poly vor einer jüngeren Generation spielten. Das alte Haus ist widerspenstig. Und der Wunsch nach Freiraum bleibt.
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