Brigade Brut
Die Luzerner Wrestling-Crew Brigade Brut prügelt sich in die Herzen der Schweizer Kulturszene. Wieso hat Gewalt einen solchen Unterhaltungswert? Wir haben die Gruppe an einen Auftritt in Bern begleitet.
Lisa Kwasny — 03/08/23, 11:39 AM
Im Ring schlagen sie sich die Köpfe ein, hinter der Bühne sind sie aber ein Herz und eine Seele: Die Brigade-Brut-Crew. (Fotos: Lisa Kwasny)
Eine Hexe in Gold tritt durch dicken Rauch in den Ring. Sie wirft sich in Pose, lässt sich vom Publikum bejubeln. Dröhnende Musik untermauert ihre Stärke, die sie bald unter Beweis stellen wird. Am Rand des Rings steht ein schmieriger Typ im Trainingsanzug, mit einem Bart wie Hulk Hogan. Die Hexe bemerkt ihn, nimmt ihn ins Visier und ein Kampf entbrennt, bei dem Realität und Fiktion verschwimmen.
So beginnt die Show von Brigade Brut, die an diesem Freitagabend in der Heiteren Fahne in Bern gezeigt wird.
Was ihr Gegner nicht weiss: Anna Goldie verfügt über magische Kräfte.
Begonnen hat die Erfolgsgeschichte der Luzerner Wrestling-Crew drei Jahre zuvor. 2020 gewann die prügelnde Gruppe die Zentralschweizer Nachwuchsplattform «Tankstelle Bühne».
Seither ist die Brigade, wie sie intern genannt wird, auf dem aufsteigenden Ast. Sie hat Auftritte in der ganzen Schweiz, momentan müssen sie sogar Anfragen ablehnen. «Es ist ein sehr zeitintensives Hobby, vielleicht sogar eher eine Leidenschaft», sagt Saskya Germann alias Lady Roqueforce.
Wer bei Brigade Brut mitmacht, muss bereit sein, mindestens ein- bis zweimal pro Woche zu trainieren. Kleinere Verletzungen und blaue Flecken gehören dazu. Das Geld, das sie mit ihren Shows verdienen, investiert Brigade Brut in Matten, Kostüme und zur Finanzierung ihres Trainingkellers.
Mit einem Full-Nelson-Hold wird Anna Goldie angegangen. Dieser kann ihren Gegner Ken Wood dennoch nicht vor einer Niederlage bewahren.
Im Ring nimmt der Kampf zwischen der letzten Hexe und dem stereotypischen Macho langsam Fahrt auf. Anna Goldie gegen Ken Wood, oder auch Ken Whack, wie auf einem Schild im Publikum steht. Die Sympathien des Publikums sind klar, Macho-Ken wird ausgebuht, als er Anna Goldie in einem Full-Nelson-Hold auf die Knie zwingt. Er greift dabei mit beiden Armen unter die Achseln seiner Gegnerin und verschränkt seine Hände hinter ihrem Nacken.
Ist dies das jähe Ende von Anna Goldie? Nein, denn Ken hat nicht mit Goldies magischen Kräften gerechnet. Sie befreit sich und kanalisiert ihre ganze Wut, würgt Ken Wood, ohne ihn zu berühren und gewinnt den Kampf der Geschlechter ein für alle Mal. Das Publikum tobt.
Die Crew bei der Inspektion des grossen Saals der Heiteren Fahne in Bern.
Entstanden ist Brigade Brut aus einer Schnapsidee. Die Netflix-Serie «Glow» behandelt die Geschichte der ersten weiblichen Wrestling-Gruppe in den 1980er-Jahren. Anna Matter alias Alpha Female und Paul Buckermann waren davon so fasziniert, dass sie selbst eine Wrestling-Gruppe gründen wollten. 2018 mieteten die ersten fünf Mitglieder von Brigade Brut eine Turnhalle und probierten die Wrestling-Griffe aus, die sie in Youtube-Videos sahen.
Schnell zeigte sich aber, dass der Show-Kampf nicht so einfach ist wie gedacht. Gemeinsam besuchten sie eine Trainingsstunde einer Zürcher Wrestling-Schule, um zu lernen, wie die Grundgriffe funktionieren und wie man fällt, ohne sich zu verletzen. Seither wuchs Brigade Brut stetig, heute sind rund 15 Personen Teil des Teams.
«Weiss jemand, wo die Wimpern sind?»
Anna Goldie vor dem Auftritt
Zurück in die Heitere Fahne: Zwei Stunden vor der Show trifft sich die ganze Gruppe beim Hintereingang des Lokals. Zwischen Autos und Möbeln findet eine gemeinsame Besprechung des Ablaufs statt, währenddessen pumpt feministischer Deutschrap durch die Holztür. Alle sind langsam etwas aufgekratzt, die Stimmung steigt merklich an.
Es geht zum Abendessen in einen Nebenraum, «dürfen wir zwei Teller mitnehmen? Vor dem Kampf können wir nicht so viel essen», fragt jemand die Abendleitung des Lokals. Es folgen einige Zigaretten gegen die Nervosität, dann bewegen sich alle zurück in den Backstage.
Die Stimmung vor der Show ist elektrisierend. Eine dicke Matte liegt im dunklen Saal, die Mitglieder von Brigade Brut sind bereits hochkonzentriert in die Vorbereitungen vertieft. Während im Konzertraum Licht und Technik getestet werden, wird im Backstage-Bereich im oberen Stock fleissig Schminke aufgetragen. «Alles ist voll Glitzer», sagt Anna Goldie, «weiss jemand, wo die Wimpern sind?»
Vor der Show wird ausgiebig geschminkt.
Langsam wird es ernst, in 45 Minuten wird gekämpft, Haare werden hochtoupiert und Chav Pesos klebt sich seine Ritterrüstung an. Er wird heute gegen die Prinzessin Crystal Mess antreten. Ihr Auftritt wird danach zu reden geben.
«Sorry, ich muss kurz schreien.»
Saskya Germann alias Lady Roqueforce
Der Backstage ist mittlerweile ziemlich chaotisch. Zwischen Boxschuhen und Glitzer-Make-up liegt Crystal Mess mit Krone und Tüllrock auf dem Boden und macht Sit-ups, um sich aufzuwärmen. Das Publikum ist bereits im Saal, weshalb die Gruppe nicht noch einmal runter kann, um ein letztes Mal die Würfe zu üben.
«Hau den Apfel nachher auf der Bühne einfach voll rein, gell», sagt Bloody Mary. «Aber nicht, dass dir der Zahn rausfällt», antwortet Hyper Viper. «Sorry, ich muss kurz schreien», warnt Lady Roqueforce alle vor. Dann schreit sie von ganz tief unten.
Gute Stimmung im Backstage-Bereich.
Etwa 250 Personen haben sich für diesen Abend angemeldet. Sie sind aus verschiedenen Schweizer Städten nach Bern gereist, um sich anzusehen, wie sich vier Teams gegenseitig verhauen. «Es folgen Darstellungen von Gewalt», verkündet eine Stimme zu Beginn jedes Auftritts. Dann beginnt die Show.
Die Moderatorin Blue Bagheera heizt den Saal auf und kommentiert das Geschehen, während das Publikum erst langsam, dann immer stärker in die Kämpfe involviert wird. Auf den Plätzen liegen schon vor Beginn Pappschilder, welche die Gäste benutzen können, um ihren Gefühlen Luft zu machen. «Ich hege Groll», steht auf einem.
«Ich schreie eigentlich nie mit einer Gruppe, aber hier wollte ich auch Teil davon sein.»
Besucherin Cassandra
Doch wie reagiert das Publikum auf die vorgeführte Gewaltorgie? «Beim Wrestling spielt das Publikum auch mit», sagt die Zuschauerin Cassandra nach dem Auftritt. Man weiss, dass die Gewalt nicht echt ist. Trotzdem, oder genau deswegen können die Besucher*innen nach Herzenslust mitjubeln. «Ich schreie eigentlich nie mit einer Gruppe, aber hier wollte ich auch Teil davon sein», erzählt sie.
Ihre Freundin Ellinor bestätigt das. Diese Beteiligung des Publikums kann aber auch überfordernd sein: «Es war ein spezielles Erlebnis», sagt Ellinor, «ich konnte mich nicht einfach hingeben, sondern war gezwungen, mitzumachen». Trotzdem: Brigade Brut zeigt, dass Menschen mitfiebern wollen. Dadurch entsteht Gemeinschaft.
Auch wenn sie sich gegenseitig bekämpfen, sind die Mitglieder der Brigade Brut schlussendlich ein eingeschworenes Team.
Innerhalb der Brigade Brut sind die Fronten nicht so verhärtet, wie es auf der Bühne scheint. «Im klassischen Wrestling würden die Antagonisten nicht zusammen Kaffee trinken. Bei uns aber schon, wir machen das als Gruppe», sagt Lady Roqueforce. Allgemein ist bei Brigade Brut ein starker Gruppenzusammenhalt spürbar. «Wir legen mehr Wert auf das Team als auf den Sport», sagt Blue Bagheera.
Das Publikum scheint aber meistens einen klaren Favoriten zu haben. Die Wrestling-Charakteren bedienen Stereotype, Ken Wood ist zum Beispiel ein klarer Aggressor, niemand jubelt für den Macho. Bloody Mary dagegen steht in der Gunst des Publikums. Entgegen der Bibelgeschichte lässt sie sich nicht von der hinterhältigen Schlange Hyper Viper verführen, sondern verhaut sie mächtig und verhindert damit die Erbsünde, die Eva auf die gesamte Menschheit geladen haben soll.
Crystal Mess und ihr Rosenkavalier Chav Pesos.
Teilweise waren die Sympathien aber nicht so einfach auszuleben. Das zeigt der Kampf zwischen Crystal Mess im Prinzessinnenkostüm und dem ritterlichen Chav Pesos. Die beiden prügeln sich durch die Geschichten bekannter Märchen. Dabei wechselte ihr Ansehen beim Publikum ständig.
Erst mit dem Schlusspunkt zieht Chav Pesos den Hass der Zuschauer*innen definitiv auf sich. Er küsst die bewusstlose Prinzessin, wie es in Dornröschen der Fall ist. Damit fällt der übergriffige Ritter beim Publikum definitiv in Ungnade.
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Nach der Show geben diese Szenen zu reden, denn das Publikum ist sich nicht einig, wer denn jetzt gut und wer böse war und ob übergriffige Situationen in einem Kunst-Kontext dargestellt werden sollten. «Diese Szene, als der Ritter die Prinzessin geküsst hat, reproduzierte die gesellschaftlichen Verhältnisse», sagt die Besucherin Leo nach der Show, «das war krass».
«Wir zeigen Probleme auf und lassen sie gegeneinander antreten.»
Saskya Germann alias Lady Roqueforce
Dass die Show politische Diskussionen auslöst, ist ganz im Sinne von Brigade Brut. «Meiner Meinung nach geht es nicht, mit Kunst nur zu unterhalten, ohne etwas auszusagen», sagt Lady Roqueforce. Auch innerhalb der Gruppe würden Diskussionen über die Szenen entstehen. So war sich Brigade Brut intern zum Beispiel nicht einig, ob bei ihrem letzten Stück «Brutanic» die Reichen oder die Armen gewinnen sollten.
Schlussendlich gewannen die Reichen. «So ist die Welt», sagt Lady Roqueforce, «wir zeigen Probleme auf und lassen sie gegeneinander antreten».