Innerschweizer Künstler
Zu Lebzeiten kannte man den Künstler Hans Emmenegger (1866–1940) nur in der Innerschweiz. Heute wirken seine Dinosaurier, unheimlichen Wälder und verwunschenen Bergseen frischer als manche Werke von berühmteren Malern seiner Zeit. Von Daniela Janser (WOZ).
09/21/21, 12:18 PM
«Nun hab ich einen grossen ‹Moralischen› & finde, es sei doch für jede halbe Stunde schade, die ich mit Märkelen und anderem verplämperte», notiert der Maler und eifrige Briefmarkensammler Hans Emmenegger, geplagt von Selbstzweifeln und öffentlicher Geringschätzung, 1915 in sein Tagebuch. Zehn Jahre später hat sich seine prekäre Lage weiter zugespitzt. Emmenegger zitiert den vernichtenden Bescheid eines Besuchers, den er um eine Einschätzung seiner Kreditwürdigkeit gebeten hatte: «Keine Bank wird Ihre Marken belehnen & Ihre Kunstsachen sind überhaupt nichts wert.»
Heute erzielen seine Gemälde auf Auktionen schon einmal sechsstellige Beträge: Das ist nicht Topliga, aber sehr viel mehr Geld, als er zu Lebzeiten je hatte. Als der Innerschweizer 1940 mit 74 Jahren starb, interessierte das über seine engere Heimat hinaus kaum jemanden. In der NZZ war er schon in den Jahren vor seinem Tod höchstens noch in den Philateliespalten aufgetaucht. Nach einer sogenannten Gedächtnisausstellung im Kunstmuseum Luzern 1941 wurde es wieder ruhig um Emmenegger, so ruhig wie an den von ihm so geliebten einsamen und öden Flecken um den Vierwaldstättersee, die er in leuchtend farbige und merkwürdig innige Gemälde verwandelt hat.
In seinem späten Schaffen wandte sich Hans Emmenegger Bewegungsstudien zu: «Kanarienvogel, vom Betrachter weg in die Dunkelheit fliegend», 1927. (Foto: Andri Stadler)
Wer überstahlt hier wen?
Als vierzig Jahre später eine gemächliche Wiederentdeckung einsetzte, mussten seine Bilder zuerst per Annonce zur Fahndung ausgeschrieben werden: «Gesucht: Werke von Hans Emmenegger». Die nach dieser Suchaktion entstandene Ausstellung von 1987 klemmte ihn bereits im Titel in ein Korsett «zwischen Böcklin und Hodler» – zwischen zwei sehr viel bekanntere, etwas ältere Schweizer Maler also, die er verehrt hatte. Der düstere Idealist Arnold Böcklin mit seiner «Toteninsel» war «so eine Art Herrgott» für ihn. Später verschob Emmenegger seine Bewunderung auf den Alpensymbolisten und schonungslosen Porträtisten Ferdinand Hodler, den er auch sammelte – bis er seine Hodler-Bilder wegen notorischer Geldnot wieder verkaufen musste.
In der öffentlichen Wahrnehmung blieb der Einzelgänger Emmenegger lange von diesen übermächtigen Paten überstrahlt – wobei der Vergleich mit den beiden letztlich mehr verstellt als erhellt. Heute lässt sich ein umgekehrter Effekt beobachten. Betritt man den Ausstellungssaal in der Lausanner Fondation de l’Hermitage, wo die Kuratorinnen Sylvie Wuhrmann und Corinne Currat einen Hodler klug zwischen den Emmenegger-Bildern «versteckt» haben, bleibt der Blick keineswegs am Berg von Hodler hängen, sondern wandert sofort zu den Landschaften Emmeneggers, die einen viel stärkeren visuellen Sog ausüben. Man staunt. Auch wenn man den Raum ein zweites Mal betritt, bleibt dieser magnetische Effekt derselbe.
Wer allerdings nur die Bildtitel oder nackten Sujets von Emmenegger kennt, kann sich kaum vorstellen, was an diesem Maler so faszinierend sein soll: ein Hügel, ein verrusster Weiler, «Schnee am Waldrand», eine Bergkuppe in der Abendsonne, «Die grosse Wolke», «Frühling», der Grund eines Bergsees. Was macht diese banalen Motive so aufregend? Ein Grossteil von Emmeneggers Bildern sind genaue Naturbeobachtungen, die er aber nie in ein simples realistisches Abbild überführt. Vielmehr giesst er die intensive Wahrnehmung – also etwa das überwältigende Gefühl, das der Anblick von Natur auslösen kann – gleich mit ins Bild.
Wie Daenerys auf dem Drachen
Zurück in der Gegenwart der Ausstellung in Lausanne steht man unverhofft vor nackten Frauen, die auf Flugsauriern ins violette Dämmerlicht reiten – und wähnt sich bei der Drachenkönigin Daenerys Targaryen aus der Fantasyserie «Game of Thrones». Zugleich fragt man sich, wie der passionierte Naturbeobachter Emmenegger in den 1880er Jahren auf Dinosaurier kam. Der Katalog entwickelt dazu die These, dass die Jurazeit damals eine beliebte Fantasielandschaft lieferte – und verweist auf eine Werbekampagne für «Liebig’s Fleisch-Extract», die mit ähnlichen urzeitlichen Motiven spielte. Wie muss es wohl für einen Maler wie Emmenegger gewesen sein, inspirierende Vorlagen zu finden in dieser noch sehr bilderarmen Zeit? Damals kam man einzig über Originalgemälde an Bilder, die grösser – und farbiger – waren als Briefmarken, Schwarzweissfotografien oder die spartanischen Zeichnungen im Annoncenteil der Zeitungen.
Neben den Sauriern gibt es in Emmeneggers Werk noch weitere Bilder, die sich wie visuelle Zündschnüre direkt in die Popkultur der Gegenwart ziehen. Seine eigenwilligen Schlaglichter auf Baumstämme im dunklen Wald etwa lassen an die irrlichternden Handkamerabilder aus dem Horrorfilm «The Blair Witch Project» denken; an plötzlich ins Licht geholte, heimliche Waldinnereien. Ständig war er auf der Jagd nach dem idealen Ausschnitt, den Lichtverhältnissen, die er sich in den Kopf gesetzt hatte. Da er, wann immer möglich, nach der Natur und nicht aus der Fantasie malen wollte, musste er seine Vorlagen zuerst in der Realität finden, was ihn an den Rand der Verzweiflung bringen konnte. Im fertigen Bild kippt die akribisch absorbierte Natur dann fast unmerklich ins Surreale oder Unheimliche, aber kaum je ins Idyllische oder gar Kitschige. Auch deshalb wirken die farbgewaltigen Gemälde dieses Licht- und Schattenvirtuosen bis heute so unverbraucht und wach.
Schon früh strichelte er mit impressionistischem Ansatz den Wind in die Baumwipfel. Später wandte er sich spezielleren Bewegungsstudien zu: ein Kanarienvogel, der in die Dunkelheit flattert; ein Wasserstrahl, der sich in eine rote Tasse ergiesst; ein Spielhahn im kühnen Gleitflug durch die Nacht mit einem wuchtigen Schweif, der einer Abgaswolke gleich seine Bewegung nachzeichnet. Doch als er diese kinetische Malerei 1928 erstmals ausstellte, musste der selbsternannte «Pröbler» Emmenegger zwei Monate später einmal mehr enttäuscht in seinem Tagebuch vermerken: «Von den rund 700 Kollegen hat auch nicht einer mir ein aufmunterndes oder anerkennendes Wort geschrieben.»
«Hans Emmenegger (1866–1940)» in: Lausanne, Fondation de l’Hermitage. Bis 31. Oktober 2021. Den Katalog gibt's leider nur auf Französisch. www.fondation-hermitage.ch(link is external)