Petition für Frauenstimmrecht
1929 wurden auch in Ob- und Nidwalden Unterschriften für das Frauenstimmrecht gesammelt. Bloss eine Handvoll Männer hat unterzeichnet. Wer waren sie?
Emilia Sulek — 05/12/21, 04:45 PM
Ob- und Nidwalden brillierten 1929 nicht mit fortschrittlichem Denken: Sie gehörten zu den «übrigen Kantonen», in denen kaum Unterschriften für das Frauenstimmrecht gesammelt worden sind. Foto: Otto Rohr, Bern/Gosteli-Archiv
34. So viele Personen haben 1929 die eidgenössische Petition für das Frauenstimmrecht in Unterwalden unterschrieben. Selbst in den naheliegenden Kantonen, die als Bastion des Konservatismus gelten, war die Befürwortung für das Frauenstimmrecht grösser: 1051 Unterschriften in Glarus, 905 in Uri und 581 in Schwyz.
Nach diesen Zahlen stand es in Unterwalden 1929 nicht gut um die Gleichberechtigung. Es gab jedoch auch Zeichen der Hoffnung: 6 der 34 gesammelten Unterschriften stammen von Männern. Seit Beginn meiner Recherche zum Schweizer Frauenstimmrecht lässt mich dieses halbe Dutzend nicht mehr los. Wer waren sie? Wieso unterschrieben sie? Und was gab ihnen den Mut, sich gegen den Willen ihrer Geschlechtsgenossen zu stellen? Um diese Fragen zu beantworten, machte ich mich auf eine Reise in die Schweizer Geschichte.
Das vergessene Land
Der Frühling 1929 liess lange auf sich warten. Der eiskalte Winter (vom Jahrhundertwinter war damals die Rede!) lud das städtische Volk ein, auf der zugefrorenen Reuss Schlittschuh zu laufen. In Bauernhäusern erfror die Kartoffelernte im Keller. Im ganzen Land mangelte es an Kohl, da die Bodensee-Schifffahrt im Eis ins Stocken geraten war. Obendrein wurde das Land von der Grippeepidemie heimgesucht.
Unter diesen Bedingungen machten sich die Frauen und Männer vom Aktionskomitee für das Frauenstimmrecht an die Arbeit. Ihr Ziel war es, möglichst viele Unterschriften zu sammeln. Mit diesen wollte das Komitee das Bundeshaus dazu auffordern, sich endlich mit der Stellung der «Schweizerfrau» auseinanderzusetzen. In den meisten europäischen Ländern durften die Frauen an der Politik bereits aktiv teilnehmen. Für die Schweizerinnen war diese Türe jedoch noch zu. Es sei höchste Zeit, so glaubte das Komitee, dass Helvetia ihr weibliches Volk endlich wahrnimmt.
Während in Grossstädten das Thema Frauenstimmrecht zumindest in einigen Kreisen diskutiert und in der Presse darüber berichtet wurde, vergass man, diese Botschaft auch auf dem Land zu verbreiten. So auch in Unterwalden, wo – wenn man den historischen Quellen Glauben schenken mag – sich kaum jemand mit dem Frauenstimmrecht befasst hat. Dort, wo es wenig strukturelle Unterstützung für die Petition gab, machte sich das Aktionskomitee auf die Suche nach Vertrauenspersonen, die als Vorbild für die örtliche Gesellschaft dienten und die Unterschriften sammeln könnten.
Pessimistische Hoffnungsträgerin
In Unterwalden fiel die Wahl auf Rosalie Küchler-Ming, eine markante und auf ihre Art emanzipierte Frau. Küchler-Ming war eine beliebte Schriftstellerin aus Sarnen, sie kam aus einer angesehenen Familie und war gut vernetzt. Von ihr erhoffte sich das Komitee, der Petition zu Popularität zu verhelfen.
Auch für meine Recherche wurde Küchler-Ming zur Hoffnungsträgerin. Ich war zuversichtlich, dass mich ihre Spur früher oder später zu den sechs Männern führen wird. Also reiste ich in die Berner Vorortsgemeinde Ittigen. Dort befindet sich das Gosteli-Archiv, eine wahre Schatzkammer für Unterlagen zur Schweizerischen Frauenbewegung. Ich hatte Glück und stiess dort auf die Korrespondenz des Aktionskomitees mit der Sarner Schriftstellerin. In ihrem elegant kalligraphierten Brief teilte sie gleich am Anfang mit, dass sich in Unterwalden «nicht viel machen lässt», weil «der Boden für die Stimmrechtsfrage noch absolut nicht vorbereitet» sei.
«Wenn sie uns zusammen einen Unterschriftenbogen schicken, so wird das vollauf genügen.»
Rosalie Küchler-Ming, Vertrauensperson des Aktionskomitees
Rosalie Küchler-Ming war dennoch klar, dass die Petition auch in Unterwalden durchgeführt werden sollte. Ihre Zuversicht schien sich allerdings in Grenzen zu halten: «Wenn sie uns zusammen einen Unterschriftenbogen schicken», schrieb sie dem Komitee, «so wird das vollauf genügen». Das Wort «einen» hat sie mit einer dünnen Linie unterstrichen.
Aber bitte anonym!
Mein Ziel war also klar. Finde ich den angeordneten Unterschriftenbogen, ist das Geheimnis um die Identität der sechs glorreichen Unterwaldner gelüftet. Gleichzeitig schien das meine einzige Möglichkeit, um an die Namen zu kommen. Denn 1929 wurde in Unterwalden das Thema Frauenstimmrecht mit allerhöchster Diskretion behandelt.
Selbst Rosalie Küchler-Ming ging auf Distanz. Zwar erklärte sie sich dazu bereit, Unterschriften zu sammeln, jedoch unter Vorbehalt. Sie wollte als Vertrauensperson nicht erwähnt werden. Ihre Unsichtbarkeit war ihr so wichtig, dass sie das Wort «nicht» sogar mit zwei Linien unterstrich. Selbst die Hoffnungsträgerin des Aktionskomitees wollte also anonym bleiben. Bei soviel Verschwiegenheit scheinen die Chancen gering, dass noch andere Zeitdokumente existieren, die Anhaltspunkte auf die Identität der Männer geben könnten.
Ich setzte meine Suche im Bundesarchiv fort. Von der Petition sind in Bern nur zwei Unterschriftenbögen zugänglich. Beide sind mit Namen versehen, deren Träger*innen jedoch leider aus dem Thurgau stammen. Was für ein Zufall wäre es auch, genau auf jene zwei Seiten der Petition aus Unterwalden zu stossen! Auch im Gosteli-Archiv sind nur wenige Petitionsseiten erhalten. Wie es der Zufall will, stammen die Unterschriften aus Emmenbrücke, Kriens und Luzern. Spannend, aber noch lange nicht das, was ich suche!
Nichts als Absagen
Die Spuren verliefen im Sand, meine Recherche drohte ein jähes Ende zu finden. Dann keimte plötzlich wieder Hoffnung auf. Einmal mehr wurde ich im Gosteli-Archiv fündig. Ich entdeckte einen weiteren Brief von Küchler-Ming. Darin empfiehlt sie dem Aktionskomitee einige Personen, welche sich dem Petitionsaufruf anschliessen könnten. Darunter sind Regierungsräte und Landammänner, aus verschiedenen politischen Fraktionen, denn das Komitee agierte überparteiisch. Fünf Männer stehen auf dieser Short List. Darunter Carl Stockmann aus Sarnen, Anton Z’Graggen aus Hergiswil, Hans von Matt aus Stans.
«In dieser Angelegenheit kann ich mich nicht betätigen»
Anton Z’Graggen, ehemaliger Regierungsrat aus Hergiswil
Zügig schickte das Aktionskomitee offizielle Anfragen an die aufgelisteten Personen. Leider ohne positive Rückmeldung. Der Regierungsrat Z’Graggen antwortete in seiner schwungvollen Handschrift, dass er sich «in dieser Angelegenheit nicht betätigen kann» und «auf keinen Fall» (mit dem Lineal Unterstrichen) mit dem Petitionsaufruf in Verbindung gebracht werden will. Der Landammann Stockmann bedankte sich für die Einladung, lehnte sie aber ab, da er «absolut keine Zeit» hatte. «Ohne mich irgendwie zu betätigen, möchte ich nicht dabei sein», heisst es in seiner Antwort an das Komitee.
Den Teufel durchschaut
Ende Mai ist es soweit. Nach dreimonatigem Unterschriftensammeln mussten die Kantonalkomitees und Vertrauenspersonen die Ergebnisse ihrer Arbeit abliefern. Auch Rosalie Küchler-Ming schickte ihren Brief nach Bern.
Im Vergleich zu den Bündeln aus anderen Kantonen musste das Kuvert aus Sarnen sehr dünn gewesen sein. Zum einzigen Unterschriftenbogen legte Küchler-Ming einen Brief, in dem sie die Situation erörterte. Selbst autonom denkende Frauen verweigerten ihr die Unterschrift, weil sie sich «dem Spott nicht aussetzen wollten oder Konflikt mit den Angehörigen fürchteten», erklärt die Schriftstellerin und fügt hinzu: «Bei den Männern lässt sich erst nichts ausrichten». Offensichtlich benötigte man (frau) ein dickes Fell, um sich damals für das Frauenstimmrecht öffentlich einzusetzen.
«Männer wünschen sich nur Frauen, die tag-täglich ihre Pflicht am häuslichen Herd erfüllen.»
Auszug aus Pamphlet von 1970.
Ein dickes Fell brauchte man auch noch Jahre später, wie mir Paul von Wyl-Egli bescheinigt. Der ehemalige Gemeinderat und Statthalter hat 1970 eine Einzelinitiative zur Einführung des Stimm- und Wahlrechts in Engelberg eingeleitet. In seinem Privatarchiv in Sarnen hat er noch ein Pamphlet, das von seinen anonymen Gegnern in Umlauf gebracht wurde.
Diesem Pamphlet nach erwünschten sich Männer nur solche Frauen, die «tag-täglich ihre Pflicht am häuslichen Herd erfüllen». Auf die anderen, «welche mit aller (sic!) Gewalt ihr Stimmrecht wollen», wie es in dem Text steht, «können wir gut und gern verzichten». Der Autor unterschreibt sich im Plural als «Einige, die den "Mephisto" durchschauen». So war die Stimmung, sagt von Wyl und zuckt mit den Schultern. Kein Wunder, dass der Bevölkerung im Jahr 1929 der Mut fehlte.
Die Spur versandet
Aus allen Ecken der Schweiz wurden Unterschriftenbogen nach Bern geschickt. Diese mussten erst gezählt werden, bevor die Petition beim Bundeshaus eingereicht werden konnte. Die Ergebnisse übertrafen alle Erwartungen. Fast eine Viertelmillion hat die Petition unterschrieben, 6.5 Prozent der Bevölkerung!
Bei meiner Recherche fiel das Resultat weniger erfreulich aus. Viele Fährten fanden ein abruptes Ende, neue Spuren liessen sich nicht mehr finden. Ein Hoffnungsschimmer bleibt jedoch. Mittlerweilen weiss ich, dass der allesentscheidende Unterschriftenbogen die Nummer 1299 trägt. Wer weiss, vielleicht lässt er sich noch finden? Bis dahin bleiben Unterwaldens 6 aber weiterhin ein Geheimnis in der Geschichte des Frauenstimmrechts.