Landei versus Stadthuhn
Eine riesige Flagge auf dem Grundstück ist ideales Transportmittel für Botschaften. Nur für welche? Das stürzt unsere Kolumnistin in ein Dilemma.
Christine Weber — 06/06/21, 02:12 PM
Wahlplakate im ländlichen Raum haben unsere Kolumnistin unter Zugzwang gestellt.
Hinter meinem Haus steht ein Fahnenmast. Und zwar nicht irgendeiner, sondern angeblich der höchste weit und breit: Er ist 10 Meter hoch und thront erst noch auf einem Felsen. Eine Fahne zu dieser Stange hat eine Grösse von mindestens drei Metern. Egal ob vom Dorf her, vom Aussichtspunkt auf der Brünigpass-Strasse oder von der Seilbahn aus gesehen: Eine solche Flagge ist im Umkreis von mehreren Kilometern sichtbar. Und was drauf prangt ebenfalls – sei es ein queerer Regenbogen oder ein rechtschaffenes Sünneli.
Wer einen so prominenten Fahnenmast hat, steht in der Pflicht und muss was machen damit. Weil Flaggen in jedem Fall eine Botschaft vermitteln, sind sie meines Erachtens mit einer gewissen Verantwortung verbunden: Was soll da drauf, auf das riesige Stück Tuch? Alles Heimatliche kommt für mich nicht in Frage - weder Schweiz, noch Obwalden, noch Luzern. Fussball interessiert mich nicht, und somit ist schon Schluss mit käuflichen Motiven, und meine Fahnenstange immer noch nackt.
Kunst ist die Lösung!, denke ich und entwickle einen Plan: Kreativleute können einen Entwurf einreichen, die beste Idee wird ausgewählt und als Fahne produziert. Damit es keinen Ärger mit der Nachbarschaft gibt, wird nebst mir pro forma jemand aus dem Umkreis in die zweiköpfige Jury einberufen, und zum feierlichen Fahnenaufzug mit Apéro sind alle von links bis rechts eingeladen. Einen Strich durch die gute Rechnung hat mir der Lockdown gemacht, und aus lauter Langweile griff ich selbst zum Pinsel: Auf ein blaues Tuch malte ich zu Ostern ein Ei mit Ohren. Weder Kunst noch Politik, garantiert unverfänglich.
Unterdessen habe ich allerdings festgestellt, dass ringsum Zurückhaltung bezüglich persönlicher Meinungsbekundung bei Werbeflächen kein Kriterium ist: Zurzeit stehen prominent und gut sichtbar auf vielen Grundstücken grosse Plakate für die kommende Abstimmung herum; unisono mit der gleichen Message: 2 x NEIN zu den extremen Agrar-Initiativen! Diese Botschaft muss ja auch von allen Vorbeigehenden (Vorbeifahrenden!) gelesen werden - ganz egal, ob man gleicher Meinung ist oder nicht. Warum also sollte nicht auch ich meine prominente Flagge mit einer persönlichen Botschaft gestalten dürfen? Meine politische Meinung an der höchsten Fahnenstange weit und breit! … eine riesige Flagge in knalligen Farben, stolz im Wind flatternd und für das gesamte Dorf unübersehbar: 2 x JA zu den verantwortungsvollen Agrar-Initiativen!
Meine Freundin aus Luzern sagt dazu: Hol dir deine Fahne besser in den urbanen Kneipen, und tarne dich auf dem Land als Fahne im Wind!
Christine Weber hat sich nach über vier Jahrzehnten aus dem turbulenten Stadtleben verabschiedet und lebt seit einem Jahr dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen: Im hintersten Teil von Obwalden. In der Kolumne «Landei versus Stadthuhn» wirft sie einen (selbst)ironischen Blick auf die Klischees von urbanem Lifestyle und hinterwäldlerischer Verstocktheit. |