London calling
Sie hat im Luzerner Sedel gemischt, im Basler St.-Jakobs-Park und schlägt sich jetzt in London durch. Flurina Hunkeler weiss, wie man sich als Frau in einer Männerdomäne behauptet. Wie sie die Branche weiblicher machen will.
Jonas Wydler — 07/13/22, 07:04 AM
Von Luzern auf die grossen Bühnen Englands: Flurina Hunkeler hat den Sprung ins internationale Musikgeschehen gewagt. (Fotos: zvg)
Der Anruf auf die Insel stockt, das Video ruckelt. «Die Internetqualität hier ist Horror, obwohl es viel teurer ist als bei uns.» So wie vieles in London. An Flurina Hunkelers guter Laune ändert das nichts, denn es läuft der Luzernerin gut in ihrer neuen Wahlheimat. Also kein Jammern über Boris Johnsons Post-Brexit-Inflations-England.
Die 29-jährige freischaffende Tontechnikerin hat beeindruckend viel erreicht, seit sie vor fünf Jahren die Fachausbildung abgeschlossen hat. Erste Erfahrungen sammelte sie beim Radio 3Fach, sie hat im Luzerner Treibhaus gemischt, im Sedel oder am Zermatt Unplugged. Und dann wollte sie bald mehr – wollte weg. Denn: «Was kannst du schon verlieren? Zurück kannst du immer.»
Ihr, die hungrig auf Neues war, dauerte in der Schweiz alles zu lang. Also fasste sie im Oktober 2020 Mut und zog nach London – und wurde ein erstes Mal gebremst: Die ganze Veranstaltungsbranche war zum x-ten Mal im Lockdown. Flurina Hunkeler überbrückte die Zeit und sorgte als Freelancerin an Spielen des FC Basel und später an der Europameisterschaft in Paris für den guten Ton im Stadion und bei TV-Übertragungen.
Und dann endlich London und wieder Live-Konzerte. Im Sommer 2021 öffneten die Clubs, Pubs und Hallen und die konzertversessenen Engländer*innen sind seither kaum zu bremsen. «Der Konzertsektor wurde durch Corona hart getroffen, deshalb ist es als junge Frau der perfekte Zeitpunkt, um in London durchzustarten», sagt sie. Das kann man durchaus als Aufruf an Gleichgesinnte verstehen.
Während der Pandemie wechselten viele in der Eventbranche den Beruf oder verabschiedeten sich in den verfrühten Ruhestand. Die Zäsur ist für Flurina Hunkeler eine Chance: «Eine neue Generation von Tontechniker*innen und Techmanager*innen ist am Werk, die meisten davon gleich alt oder jünger als ich.» Aber noch fehlen etwa 25 Prozent der nötigen Fachkräfte, schätzt sie. Das bedeutet viel Arbeit und Stress. «Die Dichte an Konzerten ist enorm. Alles findet auf einmal statt: Bands touren und Festivals wie das Primavera haben auf zwei Wochenenden aufgestockt.»
In London hat sie alle Hände voll zu tun.
Apropos Primavera: An diesem Riesen-Festival in Barcelona war sie kürzlich mit dabei. Ebenso am Glastonbury, dem wichtigsten Open-Air von England, oder dem dänischen Roskilde-Festival. Flurina Hunkeler begleitet die Sängerin Kacey Musgroves aus Nashville auf der Europatour. «Ich bin da als Tech mit dabei und für das gemietete Equipment der Band zuständig», sagt sie. Sie mischt zwar nicht selber, sammelt aber Erfahrung im Tour-Leben einer Band, die in ihrer US-Heimat zu den ganz Grossen im Business gehört.
«Ich geniesse einen gewissen Luxus, schöne Hotels, grosse Festivalbühnen und Backstages mit allem, was ich brauche.»
Flurina Hunkeler
Der Tech-Job auf der Bühne habe auch seinen Reiz: «Du bist nahe bei den Fans und den Musikerinnen.» Auf diesem Niveau wird sie gut bezahlt. «Ich geniesse einen gewissen Luxus, schöne Hotels, grosse Festivalbühnen und Backstages mit allem, was ich brauche. Ich habe meine Verantwortung und alles rundherum wird mir abgenommen», schwärmt sie.
Als sie frisch nach London kam, war das noch anders – die Bezahlung bescheiden und die Organisation oft chaotisch. Einen wirklichen Plan hatte Flurina Hunkeler nicht, aber einen starken Willen. Sie fing mit einem Kontakt an, ging aktiv auf Venues zu und war schnell mittendrin. Zuerst mischte sie kleine Konzerte in Pubs oder Partys. «Es ist unglaublich viel los, in London gibt es überall und an jedem Wochentag Live-Musik. Und die Lokale sind immer voll.» Später heuerte sie mit Erfolg bei der Audio-Firma Britannia Row an, die Shows in den grossen Konzerthallen bestückt.
Die Arbeit auf Tour ist zwar hart, dafür kann Flurina von schönen Hotels profitieren.
Zwei Dinge haben ihr in England den Start erleichtert: Zum einen hat die Live-Musik einen höheren Stellenwert als hier, auch beim ganz jungen Publikum. Zum anderen kommt ihr die britische Mentalität entgegen: «Die Leute sind anders drauf, sie vermitteln dir Kontakte und es herrscht viel weniger Futterneid.»
Flurina Hunkeler hat über ihre eigene Karriere hinaus eine Mission: Sie will das Sound-Engineer-Business «more girlie» machen. Denn als Frau agiert sie immer noch in einer Männerdomäne. Die grösstenteils fehlende Diversität auf Festivalbühnen ist derzeit wieder ein grosses Thema – hinter der Bühne sieht es nicht besser aus. «Am Licht arbeiten viele Frauen, aber gesamthaft ist die Technik noch sehr männlich und weiss geprägt. Es braucht mehr Frauen und allgemein mehr Diversität, auch kulturell.»
«Du brauchst als Frau ein viel stärkeres Selbstbewusstsein in diesem Beruf.»
Flurina Hunkeler
Blöde Sprüche oder sexistisches Verhalten erlebe sie zum Glück selten, im Gegenteil: «Die Leute finden es cool, wenn eine junge Frau hinter dem Mischpult steht.» Trotzdem müsse sich als Frau doppelt beweisen. «Ich werde weniger ernst genommen, muss mehr leisten und mich eher rechtfertigen. Du brauchst als Frau ein viel stärkeres Selbstbewusstsein in diesem Beruf.»
Der Bühnenjob ist rau, die Kleidung schwarz, das Material schwer. Deswegen wolle sie aber ihre Feminität nicht verlieren, sagt Flurina Hunkeler. «Das will ich verkörpern und vermitteln: Sound Engineering ist auch ein gefühliger Job. Das Equipment ist zwar gross und grob, Mischpulte und Mikrofone hingegen sind sehr delikat.»
Als Frau müsse sie sich doppelt auf der Bühne beweisen, sagt Flurina Hunkeler.
Viele Frauen seien vom Naturell her hinterfragender und sensibler. Daran müssten sich die Männer gewöhnen. «Das Business kann mehr feminine Eigenschaften vertragen», sagt Flurina Hunkeler. Sonst bestehe die Gefahr, dass Frauen das Gefühl bekommen, sie müssten hart und bitter werden, um erfolgreich zu sein.»
Sie ist guten Mutes, dass die Konzertbranche diverser wird. «Wenn mehr Frauen dazukommen, wird sie sich automatisch verändern.» Die meisten in der Szene seien sehr offen und wünschten sich mehr Frauen. In der multikulturellen und offenen Grossstadt London sowieso. «Ich finde es angenehm, der Beschützerinstinkt von Ü-50-Männern in höheren Positionen ist weniger ausgeprägt.»
Vorbild zu sein allein genügt ihr nicht. Flurina Hunkeler will in Zukunft ihre Erfahrung in Workshops weitergeben und mehr Frauen vom Beruf hinter dem Mischpult überzeugen. Ähnlich wie das hierzulande Helvetiarockt oder das M4Music tun. Denn: «Jetzt ist der Moment, mehr Frauen für den Beruf zu motivieren!» Nur fehlt ihr vor lauter Bühnenjobs gerade noch die Zeit dafür…