Keine Lust auf Öffentlichkeit
Michelle Grob hat das Neubad mitaufgebaut, dabei aber stets das Rampenlicht gemieden. Nun verlässt die Co-Leiterin das Luzerner Kulturhaus. Und somit auch einen Job, den sie eigentlich gar nie wollte.
Martina Kammermann — 08/18/21, 07:04 AM
Passt wie die Faust aufs Auge. (GIF: Michelle Grob)
An der Tür von Michelle Grobs Atelier im Neubad hängt ein etwa A3 grosses Foto ihres Gesichts. Auf ihrem grossen, zu einem O geformten Mund ist mit Klettverschluss ein rundes Knopfmikrofon befestigt. Sie nimmt es in die Hand und drückt auf den Play-Knopf. «Muuuuooooaaaaaah», gähnt es aus dem kleinen Lautsprecher. Grob beginnt laut zu lachen.
Es klingt so, wie sie selbst ihre Kunst beschreibt: Lieb und ironisch.«Keine Ahnung, wer das aufgenommen hat», sagt sie. Vor einer Weile hat sie im Neubad mehrere solcher Mikrofon-Bilder verteilt. Wer immer an einem vorbeikommt, kann selbst eine Botschaft aufnehmen oder einfach reinhören, was zuletzt gespeichert wurde.
Michelle Grob mag lustige Sachen. Die Künstlerin baut Raketen aus Kirchenbänken, verzuckert Kleider zu Skulpturen, giesst Kaugummis in Eisen, schleckt in Videos Wolkenkratzer ab, tränkt mit der Giesskanne die Welt in neue Farben. Und seit rund sieben Jahren treibt die 41-Jährige ihr Unwesen im Neubad. Seit den Anfängen hat sie das Kulturhaus mitaufgebaut und hat es die letzten vier Jahre als Co-Leiterin mitgeführt.
Am Rand oder in der zweiten Reihe: Michelle Grob. (Bild: zVg)
Obwohl im Haus omnipräsent, war Grob gegen aussen jedoch kaum als Neubad-Vertreterin sichtbar. Wann immer eine Bühne rief, war es Co-Betriebsführer Dominique Chenaux, der vor die Kamera, das Publikum oder die Politgremien stand. «Das hatten wir so abgemacht», sagt sie und schmunzelt. Grob steht nicht gerne in der Öffentlichkeit, und während zwanzig Jahren Kulturaktivismus in Luzern einiges Geschick darin entwickelt, jegliches Scheinwerferlicht an sich vorbeizulenken.
Kunst und Excel
Diese Tage verlässt sie – mehr oder weniger gleichzeitig wie Chenaux und einige andere Köpfe der ersten Neubad-Generation – ihren Posten, und wird sich künftig wieder vermehrt der eigenen Kunst widmen. Diese führt sie ab September für drei Monate nach Genua, wo sie gerade ein Atelierstipendium gewonnen hat.
Zeit für einen Zwischenstopp in ihrem Atelier. Dieses gleicht mit seinen fünf Quadratmetern einem Schuhkarton und hat einen doppelten Boden, unter dem sie allerlei Material gelagert hat, zum Beispiel ihre geliebten und über lange Zeit angesammelten Teppiche und Gobelins. Kürzlich hat Grob ihr kleines Reich um einen zusätzlichen Schreibtisch erweitert. An diesem sitzt sie jetzt und erzählt, warum sie diesen Leitungsjob im Neubad gar nie wollte, ihn trotzdem übernahm – und nun endlich loslassen kann.
«Beim Kunstmachen fliegt alles in der Luft, in der Buchhaltung geht alles auf.»
Michelle Grob
Grob macht gern viele Dinge an vielen Orten, etwa im Kleintheater, am Fischmarkt, im Secondhandladen oder wohin immer die Kultur sie ruft. Dazu besitzt eine in der Kulturszene besonders selten auftretende Fähigkeit: Sie kann Buchhaltung. Die Kunst der Excel-Tabellen begann sie sich 2013 selbst beizubringen, als es galt, die Geschäftsstelle der Industriestrasse-Genossenschaft aufzubauen. Die Zahlenreihen erwiesen sich als ein schönes Gegengewicht zum künstlerischen Tun, oder wie sie es formuliert: «Beim Kunstmachen fliegt alles in der Luft, in der Buchhaltung geht alles auf.»
Volle Regale im Atelier der Künstlerin Grob. (GIF: Michelle Grob)
Die wilden Jahre sind vorbei
Über eine Stellvertretung rutschte sie 2014 in die Administration des damals noch ganz leeren Neubads. «In den ersten Jahren war alles wild, neu und im Aufbau, es fehlten Strukturen und Abläufe», erzählt sie. Also hängte sich Grob rein, vertiefte sie sich in Accounting-Programme, integrierte ein Lohnsystem, führte ein Controlling ein. Es sind Begriffe, die bei vielen Kreativen Bibeli auslösen. Doch Grob mag Zahlen. «Und im Grunde arbeitete ich so, wie ich auch in der Kunst arbeite: Ich gab mir selbst meine Aufgaben, suchte Lösungen, entwickelte und gestaltete», erzählt sie.
Gleichzeitig schleppte sie allerlei Möbel an, stand hinter der Bar, gestaltete diese und jene Ecke, bepflanzte den Garten mit Wildstauden. «Ich habe das Neubad immer als grosses Kunstprojekt gesehen, das ich zusammen mit anderen gestalte», sagt Grob. «Das Finanzielle war einfach ein Teil davon.» Je mehr das Neubad wuchs, desto wichtiger wurde dieser Teil.
«Mein Platz ist in der zweiten Reihe.»
Michelle Grob
Als die Anfrage für die Co-Geschäftsführung kam, sagte Grob ab. «Mein Platz ist nicht in der ersten, sondern in der zweiten Reihe.» Als sich daraufhin niemand Passendes für den Posten fand, liess sie sich 2017 schliesslich doch darauf ein.
Nun, da sich das Haus als Kulturort fest etabliert hat und der Betrieb auf soliden Beinen steht, sieht sie ihre Aufgabe als abgeschlossen an. «Wir hatten eine wunderbar bewegte Zeit und konnten etwas Schönes auf die Beine stellen», sagt sie, «doch Finanzdienstleistungen zu erbringen, ist weder mein Beruf noch mein Ziel, darum übergebe ich das jetzt gern in neue Hände.» Um die Verantwortung fürs Neubad dann auch tatsächlich loslassen zu können, kommt ihr das Atelier in Genua gerade recht.
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Guerilla statt Kunstraum
Statt Werke zu produzieren und diese danach auszustellen, möchte sie dort einen ganz anderen Weg einschlagen. «Abgeschottet in Museen und Galerien können auch die tollsten Arbeiten nur wenige erreichen. Ich will neue Wege finden, Kunst unter die Leute zu bringen.»
In welche Richtung sie dabei zielt, versteht man am besten, wenn man auf ihre Zeit im Neubad zurückblickt. Denn obwohl, oder vielleicht gerade weil Grob neben ihren Führungsaufgaben kaum Zeit in ihrem Atelier verbringen konnte, liess sie nebenbei allerlei Künstlerisches in den Neubad-Alltag einfliessen. So verschickte sie mit den Lohnabrechnungen jeweils eigens produzierte GIF-Videos, bespielte Glaswände und Spiegel laufend mit eigenen Arbeiten, oder schuf ihre eigene kleine Guerilla-Galerie mit Kunstobjekten und Brocki-Funden. Immer ungefragt, teils unerlaubt.
«Kunst kann durchaus auch in einem Betrieb und seinen Strukturen stattfinden. Diese Spannung begann mich zu interessieren», sagt Grob. «Das möchte ich nun weiterspinnen, und Guerilla-artige Strategien zum Beispiel auch für den öffentlichen Raum entwickeln.»Wie diese konkret aussehen werden, weiss sie noch nicht. Zumindest eine Schiene, die sie verfolgen will, steht allerdings schon fest und führt ins Angewandte: Da sich die meisten Menschen keine grossen Kunstwerke leisten können, wird sie künftig allgemein kleinere und günstigere Arbeiten produzieren. Aktuell bearbeitet sie etwa Brocki-Socken mit Bleichmittel und verarbeitet ihre Pilz-Bilder (sie sammelt sie seit zehn Jahren) zu Collagen.
Und gleich neben ihrem Arbeitstisch steht ihre neuste Errungenschaft: eine Stickmaschine. Wenn Grob sie ansieht, wirkt sie fast ein wenig verliebt. «Ich bin ein grosser Fan von Textil-Aufnähern und glaube, in diesem Bereich gibt es noch viel Potenzial.» Ob die Resultate dann als Kunst oder Design wahrgenommen werden, ist ihr reichlich egal. «Diese Grenze ist für mich nicht relevant», sagt sie. «Die Hauptsache an schön gestalteten Dingen ist doch, dass sie sichtbar sind und irgendwer Freude daran hat.»
Die Bio |
Michelle Grob, 41, ist in Wil (SG) geboren und aufgewachsen. Seit ihrem Kunst-Studium wohnt sie in Luzern und ist als freie Künstlerin tätig. Sie arbeitet vor allem mit Textilien, Holz, Video, Fotografie und Klebefolien. In ihren Werken spielt sie oft mit Perspektivenverschiebungen und befragt die Rolle der Hausfrau sowie allgemein den Wert von Arbeit. Grob mag fast alles ausser Putzen. Darum lässt sie ihre 22-Quadratmeter-Wohnung in Emmen von einer Fachperson reinigen. Zur Not hilft manchmal ihr Partner und Theaterautor Christoph Fellmann aus. |
Wortwörtlich an die Leute bringt Grob ihre Kunst mit ihren Selbstklebe-Tattoos: Für den Frauenstreik 2019 etwa montierte sie ihr Konterfei kurzerhand ins berühmte We-can-do-it-Bild, verteilte die Tattoos an der Demo – und blickte schliesslich von hunderten Frauenarmen. «Diese Art von Auftritt mag ich durchaus», sagt sie und grinst.
Wenn Grob von ihren Projekten und Projektli erzählt, wird klar: Langweilig wird es ihr auch ohne Neubad bestimmt nicht. Nach ihrer Reise nach Genua wird sie dem Haus dennoch erhalten bleiben: Als Atelier-Mieterin und einmal die Woche als Service-Kraft hinter der Bar.
Auf allen möglichen Körperteilen war Michelle Grob am 14. Juni anzutreffen. (Bild: zVg)
Michelles schönster Satz am 2.8.2021 zwischen 10 und 12 Uhr: «Seit ich arbeite, habe ich das Gefühl, ich sei pensioniert.»