Feucht, kalt, brutal
Vergessen Sie Spiegellabyrinth und Gletschertöpfe. Die Felsenwelt ist – speziell im Hochsommer – der neue Place to be im Gletschergarten Luzern. Nicht etwa wegen nützlichen Informationen zur Erdgeschichte, sondern wegen der Brutalismus-Architektur.
Jonas Wydler — 07/22/21, 06:53 AM
Spannender als die Entstehung der Erde: Massiver Beton im Luzerner Gletschergarten. (Foto: Jonas Wydler)
Ich habe zuvor brav die Broschüre über Geologie, Alpenfaltung und versteinerte Lebewesen gelesen. Aber nun stehe ich im neu eröffneten Gletschergarten und bin ganz angetan vom rohen, brutalen und menschengemachten Beton. Wie er da meterdick, schräg geschichtet und schnurgerade in ein schwarzes Loch im Hügel weist. Wie eine zu klein geratene Tunneleinfahrt einer Autobahn. Es zieht mich hinein und schon nach wenigen Schritten löst sich das Versprechen ein: Dunkelheit übernimmt, es plätschert und tröpfelt und feucht-kühle Luft macht die nahezu 30 Grad draussen vergessen.
Die neue Felsenwelt ist das Resultat von gezielten Sprengungen in den Berg. Der schräge Winkel der Betonkonstruktion richtet sich nach den natürlichen Schichten des Gesteins, liest man im Beschrieb. Und so harmonieren der propere Beton und der zerklüftete, schroffe Sandstein tatsächlich auf seltsame Weise. Der von Urkräften über 20 Millionen Jahre bearbeitete und gepresste Fels ist eindrücklich – zumindest die Vorstellung davon. Aber er kann dem menschengemachten Eingriff nicht das Wasser reichen. Was für ein Triumph über die Natur! Was für ein an Brutalismus gemahnendes Zeugnis mitten in diesen Relikten aus Eis- und Meereszeiten.
Die Felsenwelt sei allen Verachter*innen hoherTemperaturen ans Herz gelegt. (Foto: Jonas Wydler)
Wo Hitze keine Chance hat
Der Weg führt leicht abfallend und verwinkelt durch Klüfte und Pfützen tiefer in den Berg hinein. Es lohnt sich, immer mal wieder stehen zu bleiben und die Dunkelheit, die Enge und Kälte auf sich wirken zu lassen. Licht-Projektionen auf den Sandsteinfelsen erzählen von vergangenen Phänomenen und Lebewesen der Erdgeschichte.
Und dann die Kaverne – der tiefste Punkt. Hier sammelt sich das eindringende Regenwasser zu einem See. Vergessen sind Ozon, Lärm und Hitze des Sommers, hier möchte ich bleiben. Es ist der neue Place to be im hochsommerlichen Luzern – er alleine ist die 20 Franken Eintritt wert.
Mit jedem Schritt melden sich erbarmungslos Tageslicht und Affenhitze zurück.
Danach geht’s über verwinkelte Treppen wieder 30 Meter aufwärts an die Erdoberfläche. Auch hier im Gartenhof, wie er genannt wird, haben die Miller & Maranta Architekten aus Basel ganze Arbeit geleistet. Die Betonkonstruktion greift wiederum die Schichten des Sandsteins auf und durch die Winkel der Konstruktion ergeben sich spannende Perspektiven. Mit jedem Schritt melden sich erbarmungslos Tageslicht und Affenhitze zurück. Der feuchte Fels schimmert hier rötlich, bald werden Moos, Algen und Farne zum Vorschein kommen. An der Oberfläche erreicht man einen neu hergerichteten Park – die Sommerau. Er bietet eine prima Aussicht und die Ausläufer der Betonkonstruktion ragen selbstbewusst in die Landschaft. Wenn der ganze Alpenpark weiterwächst, spriesst und grünt, wird das eine noch würdigere Szenerie ergeben.
Die neue Attraktion im Gletschergarten ist ein glasklarer Sieg über die Natur. (Foto: zvg)
Tropen, Eiszeit, Beton
Die Felsenwelt ist nach drei Jahren Spreng- und Bauzeit zu Recht das neue Highlight des 150 Jahre alten und rundum erneuerten Gletschergartens.
Klar sind auch die szenografischen Einfälle sehens- und hörenswert. Die anfassbare Erdgeschichte macht uns klein und unbedeutend, Überreste von Pflanzen und Tieren muten skurril an. Wer hätte gewusst, dass hier Flamingos, Nashörner, Krokodile und Ur-Elefanten in Zeiten eines tropischen Meers ihr Unwesen trieben, bevor die Eiszeit übernahm? Jedenfalls bleibt das der Theorie und Fantasie überlassen.
Die Stars im neuen Gletschergarten sind die Architektur und das Felsenklima. «Hier wird Erdgeschichte zum Gänsehaut-Moment», wirbt der Gletschergarten. Nun, nicht ganz: Für einmal macht der mutige, markante und menschengemachte Eingriff den Reiz aus.
Der neue Gletschergarten 20 Millionen Franken hat das gesamte Erneuerungsprojekt gekostet. Die Klassiker Spiegellabyrinth, Gletschertöpfe und das pittoreske Schweizerhaus gibt’s nach wie vor, kommen aber teils frisch daher. Neu gibt’s ein Bistro und bald komplettiert ein neuer Sandsteinpavillon für Sonderausstellungen mit einem kleinen Kino das Ensemble. |
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