Bildbetrachtung
Diese ganzen Achtsamkeitssachen. Bin ich einfach noch nicht bereit, mich auf meine innere Verspieltheit einzulassen?
Christov Rolla — 04/30/21, 04:26 AM
So grau alles.
Du kannst dir nicht vorstellen, wie plötzlich mir manchmal alles über den Kopf wächst. Der Winter zum Beispiel ist ja sowieso schon eine dunkle Zeit. Weihnachten und das alles, die glücklichen Familien, die unglücklichen Familien, die unglücklichen Singles, die glücklichen Singles, der Jahreswechsel, das Geböllere und die Vorsätze und das neue Jahr – das macht mich alles ein bisschen traurig.
Dann stehe ich im Konsum und habe Lust auf Äpfel, und plötzlich überkommt es mich; dann stehe ich minutenlang vor den Kisten und studiere, ob das jetzt schon frische Äpfel sind oder noch alte, und dann weht mich von der Seite eine Wehmut an, warum jämmersnei man einfach so für eine Minute vergessen kann, dass Äpfel im Herbst geerntet werden, einfachstes Schulwissen, oder in meinem Fall sogar Erntehelferkindwissen, und dann probiere ich mich zu erinnern, welches jetzt schon wieder die weniger schlimmen Äpfel sind, die aus dem schweizerischen Kühlhaus oder die aus Chile, weil ich möchte mich gerne mit der Klimajugend solidarisieren, auch wenn ich mit Entsetzen feststelle, wie alt ich geworden bin, wenn ich diese jungen Hüpfer und Hüpferinnen anschaue, dabei kommt es mir vor wie gestern, dass ich auch so jung und schön und hoffnungsvoll war und auf dem Pausenplatz mit Doris und Amanda, aber das führt jetzt zu weit, jedenfalls komme ich mit den Äpfeln nicht weiter, und dann nehme ich ganz entmutigt Mandarinenschnitze in der Dose.
Und dann stehe ich fünf Minuten später auf der Brücke und schäme mich und weiss nicht, ob ich die Dose auf die Geleise werfen soll oder mich selber. Aber dann denke ich: Jetzt ist der Schaden ja schon angerichtet, die Dose ist gekauft, jetzt gönn dir doch diese Mandarinenschnitze, ist ja schliesslich Weihnachten, kannst dir ja jetzt auch mal was Gutes tun, und wir wollen nicht päpstlicher sein als der Papst, und dann reisst die Lasche ab, und mit dem Sackmesser habe ich noch nie in meinem Leben eine Dose öffnen können, und dann kommt der Weinkrampf. Wie aus dem Nichts, sag ich dir.
Ja da wunderst du dich jetzt, dass ein altes Guetzli wie ich ein Sackmesser hat, gell. Mein Vater selig hat immer gesagt: Ein rechter Bub hat a) ein Nastuch, b) ein Stück Schnur und c) ein Messer im Sack. Dann hat meine Mutter-ebenso-selig jeweils gesagt: Hans, dir ist aber schon bewusst, dass unser Trudy ein Mädchen ist. Und dann hat er immer gesagt: Auch ein Mädchen kann ein rechter Bub sein! Das war so ein Gspässli zwischen den beiden. Und dann hat er mir einen Apfelschnitz zugesteckt, oder ein Fitzeli Käse, oder was auch immer er gerade am Schnäfeln war, wenn er den Spruch machte. Und auf den elften Geburtstag hat er mir dann ein eigenes Sackmesser geschenkt. Das habe ich immer noch, schau, hier. Aber Dosen öffnen kann ich damit nicht.
«Ich will mir nicht selber begegnen. Ich will mir entfliehen!»
Und wenn dann der Weinkrampf vorüber ist, und ich schau auf die Geleise mit der kalten Mandarinenschnitzdose in der Hand, dann überkommt mich immer ein tiefes Sehnen nach der Ferne. Oder sagen wir: Nach Entfernung. Ist egal, ob Belgien, Peru oder das Engadin, ob Strand, Museum oder Minigolf, ganz egal. Ich möchte mich eh am liebsten von mir selber entfernen. Darum macht mich ja auch Yoga nicht glücklich. Oder diese ganzen Achtsamkeitssachen. Ich will mir nicht selber begegnen. Ich will mir entfliehen! Aber der Körper klebt wie feuchtes Mehl an mir und kommt immer mit.
Malen auch ganz schlimm. Klangschalen zum Davonlaufen. Nein, mit Windspielen und Traumfängern und dem ganzen Gugus kannst du mir abfahren. Ich finde das zwar immer sehr schöne Frauen, mit den weichen Schärpen im Winter und den luftigen Foulards im Sommer und ihrer ganzen Lebenskraft und der Geerdetheit und den roten Accessoires. Ich wäre auch gerne so. In mir ruhen, aus mir schöpfen, mit mir selber im Gleichgewicht sein, etwa so stelle ich mir das vor. Aber eben, der ganze Chichi gibt mir nichts. Norbi würde sagen, dass das ein Abwehrmechanismus ist von mir, weil ich noch nicht bereit bin, mich auf meine innere Verspieltheit einzulassen. Aber da muss ich Norbi entgegnen, dass das bei mir kein Abwehrmechanismus ist, sondern viel mehr das emotionale Pendant zum gesunden Fluchtreflex.
Und das ist ja auch so etwas Eigenartiges: Wie schnell es mir wieder besser gehen kann, wenn ich an Norbi denke.
# Christov Rolla ist eigentlich Musiker. Für diese Kolumne aber versetzt er sich in Menschen und an Orte. Manche bezeichnen dies als Rollenprosa, andere als redselige, ausschweifende und komplett herbeifabulierte Selbstgespräche. Wir nennen es: Bildbetrachtung. Mit freundlicher Unterstützung der Kulturförderung des Kantons Luzern.