Kulturkampf Fussball – Ein Kommentar
Fussball ist ein einfaches Spiel. Doch am Ende reden alle über Frisuren und die Nationalhymne. Mit der Nati identifiziert sich die Schweiz nur, wenn sie gewinnt.
Ramon Juchli — 06/22/21, 02:12 PM
Wer ist der Sündenbock, wenn die Nati es verbockt? (Foto: Adobe Stock /GCapture)
Tausende Zeilen haben die Sportredaktionen des Landes in den letzten Tagen darauf verschwendet, über die Dinge zu schreiben, die nichts mit Sport zu tun haben. Wasserstoffblonde Haare werden zum explosiven Thema, zu wenige Chorknaben-Nati-Spieler haben zu wenig laut die Hymne mitgesungen, und womöglich besitzen einige von ihnen gar teure Sportwagen.
Die Polemik um Oberflächlichkeiten findet in den Kommentarspalten ein lautes und überdeutliches Echo. Mittlerweile sahen sich Akteure wie Sarah und Manuel Akanji sowie Nati-Trainer Vladimir Petkovic gezwungen, zu reagieren. Sie versuchen, das frustrierte Publikum wieder aufs wesentliche zu besinnen. Doch hier geht es nicht um Fussball. Die Fans und Kommentatoren führen einen Kulturkampf.
Denn natürlich ist allen klar, dass ein beschwingter Gruppengesang die sportliche Leistung über 90 Minuten genauso wenig beeinflusst wie eine natürliche Haarfarbe. Warum sich die Menschen so sehr über diese Dinge aufregen, hat vielmehr zwei Gründe: Einerseits entfremden sich die Fans zunehmend von den schwerreichen Stars. Andererseits tritt bei jedem Misserfolg der Nati der latente Rassismus wieder an die Oberfläche.
Die Füdlibürger-Schweiz identifiziert sich nur mit dieser Nati, wenn sie gewinnt.
Schon ein mässig erfolgreicher Profi kann sich heute einen Lebensstandard und Luxusgüter leisten, von denen ein durchschnittlicher Saisonabo-Besitzer sein gesamtes Arbeitsleben lang nur träumen wird. Nehmen wir den Nati-Ergänzungsspieler Edimilson Fernandes: Als dieser 2016 mit 20 Jahren nach London wechselte, lobte er gegenüber dem britischen Guardian die Shopping-Möglichkeiten der Metropole. Er fahre dort gerne mit seinem weissen BMW herum, den er aus der Schweiz anliefern liess, und kaufe sich Schuhe der Luxusmarke Louboutin.
Das Milliardenbusiness Fussball mutiert zur Blase, die junge Männer viel zu früh viel zu reich macht. Sie legen sich eine Dekadenz zu, die man persönlich abstossend finden kann. Mit der sportlichen Leistung hat dieser Habitus an sich nichts zu tun. Trotzdem liegt es den Fans nahe, in ihrer Unzufriedenheit die beiden Dinge zu verbinden: Fettes Auto fahren, aber sich dann scheinbar zu schade sein, auch mal einen Gegenspieler umzugrätschen? Für die Fans ein sicheres Zeichen von Abgehobenheit, fehlender Leidenschaft, Fussballspielen aus Geldgier.
Doch während der immense Reichtum von Sportlern etwa bei Roger Federer höchst selten angesprochen wird, regt sich die Schweiz bei der Nati regelmässig darüber auf. Das mag an der Selbstdarstellung der Akteure auf Social Media liegen – oder auch an ihren Nachnamen.
Nationalhymne abschaffen. Badekappenpflicht beim Spielen.
Nati-Spieler mit Wurzeln ausserhalb der Eidgenossenschaft stehen unter Generalverdacht, sich nicht «richtig» mit der Schweiz zu identifizieren. Das zeigte sich am Nachspiel des Doppeladler-Zwischenfalls vor drei Jahren, der Polemik um Grüppchenbildung im Vorfeld der WM 2018, und bei jeder Niederlage der Nati überhaupt. Dann wird mit dem Finger gezeigt: Auf alle Spieler, welche die Hymne nicht mitsingen. Auf Captain Granit Xhaka, der vom unangefochtenen Leader zur kontroversen Figur gemacht wird. Auf Xherdan Shaqiri, der beste Kreativspieler der Schweiz, der eben doch über seinen Zenit hinaus sei.
Immer lauten die Vorwürfe fehlender Einsatz, mangelnde Motivation, zu wenig Feuer für die Schweiz. Dass nur dank diesen Spielern die Schweiz überhaupt regelmässig an Endrunden teilnimmt, wird dabei geflissentlich ignoriert. Die migrantischen Spieler stehen unter ständigem Druck, den Tatbeweis zu erbringen, dass sie der Schweizer Nati würdig sind. Dem Team, das sie überhaupt erst so gut gemacht haben. Die Füdlibürger-Schweiz identifiziert sich nur mit dieser Nati, wenn sie gewinnt. Bei einer Niederlage ist fehlende Identifikation der Sündenbock.
Egal wie die laufende Europameisterschaft ausgeht: Es braucht einen Umbruch. Nicht unbedingt im Schweizer Fussballnationalteam. Sondern im Diskurs über sie. Nur, wie lässt sich der herbeiführen? Was soll man kurzfristig tun, damit Sascha Ruefer beim nächsten Gegentor wieder mehr über Stellungsspiel und Zweikampfverhalten und nicht mehr über Frisuren oder Hymnen spricht?
Die Lösung könnte sein: Nationalhymne abschaffen. Badekappenpflicht beim Spielen. So könnte die Schweizer Nati aufhören, kulturelles Symbol zu sein, und wieder anfangen, einfach nur Fussball zu spielen.