Mann ärgere dich nicht
Wie viele Künstlerinnen kennen Sie? Wie viele Autorinnen haben Sie in der Schule gelesen? – Die Zahl wird sich massiv/brutal/diametral von der Zahl der Männer unterscheiden, die sie dazu aufzählen könnnen. Und das ist kein Zufall.
Jana Avanzini — 10/18/21, 07:51 AM
Gingen Künstlerinnen bloss vergessen, oder wurden sie aktiv abgewertet und verdrängt? (Illustration: Line Rime)
Ich hatte Zitate gesucht, über Kunst. Und ich fand sie zu Hunderten auf dutzenden von Seiten. Hesse, Dali, Picasso, Schlingensief, Klee. Und nach ungefähr 500 fiel mir auf: Mir war noch kein Zitat einer Frau begegnet.
Leicht angesäuert suchte ich weiter, nun mit klarem Fokus. Dann endlich: Kahlo! Wieder seitenweise keine einzige weibliche Person. «Die besten Zitate über Kunst». «Tolle Zitate von Künstlern». Sie werden es erraten: keine Frau. Weil es keine Künstlerinnen gibt? Weil Frauen nie etwas Gescheites über Kunst gesagt haben? Bestimmt nicht.
Und es gab übrigens auch sehr viele gute und äusserst erfolgreiche Schriftstellerinnen – in den verschiedenen Jahrhunderten. Seltsam, dass wir in der Schule und im Studium, bis auf eine Ausnahme in Englisch meine ich, nur Männer gelesen haben. Ausschliesslich. Weil nur sie lesenswert sind? Weil man uns nur durch Kleist, Frisch, Hoffmann, Süsskind und Capus etwas über Literatur und die Welt beibringen konnte? Bestimmt nicht.
«Frauenliteratur» wird als trivial abgewertet, weibliche Lebenswelten und Perspektiven gelten als Nischenthema.
Es ist frustrierend, wenn man Nicole Seiferts kürzlich erschienenes Buch «Frauen Literatur» liest, denn es zeigt auf, wie das Abwerten von weiblichen Werken System hat. Und wie dieses von vielen Menschen bewusst oder unbewusst weitergeführt wird.
Zitate, Archive, Denkmäler, Strassennamen – lange wurden Kanon und Geschichte ausschliesslich von Männern geschrieben. Und Männer fanden wichtig, zitierenswert, überliefernswert, was andere Männer taten.
Frauen, deren Arbeit und Werk zählten als nicht dokumentierungswürdig, und so ist es oft noch heute. Werke von Frauen werden kleingeredet und ignoriert. «Frauenliteratur» wird als trivial abgewertet, weibliche Lebenswelten und Perspektiven gelten als Nischenthema. Auf Wikipedia sind unter 20 Prozent der Biografie-Artikel über Frauen. Im Literaturbetrieb besprechen Männer bloss zu einem Viertel Autorinnen – man beachte #frauenzählen oder #diekanon. Oder wenn über Frauen geschrieben wird, dann oft (ab)wertend – man beachte #dichterdran.
Tatsächlich lernen Jungen kaum, auch die Perspektive anderer Geschlechter einzunehmen.
Als ich mit meinen männlichen Kollegen Buchtipps sammelte, dann landeten lediglich von meiner Seite auch Autorinnen auf der Liste. Und ich glaube ihnen, dass sie das nicht böse meinten. Doch es anzuerkennen ist wichtig, und sich das nächste Mal die Mühe zu geben, auch eine Autorin* zu lesen, eine Künstlerin* zu erwähnen, den Vortrag einer Frau zu besuchen (das tun Männer gemäss einer aktuellen Studie ebenfalls viel seltener – während Frauen ausgewogen besuchen/berichten).
Doch gerade bei Literatur winken viele ab. Diese «andere Perspektive», diese «Frauenthemen». Und tatsächlich lernen Jungen von klein auf kaum, auch die Perspektive anderer Geschlechter einzunehmen. Wir jedoch nehmen seit jeher die männliche Perspektive ein, müssen uns mit den männlichen Begriffen identifizieren, den männlichen Protagonisten, den männlichen Autoren und Experten. Es blieb uns ja oft auch nichts anderes übrig.
Als Kind las ich Enid Blyton, Astrid Lindgren, Federica de Cesco, J.K. Rowling, später Sylvia Plath, Virginia Woolf und Simone de Beauvoir. Ich las Allende, Jelinek und Austen, dann Marlen Haushofer, Juli Zeh, Martina Clavadetscher, Dragica Rajčić Holzner, Mieko Kawakami, Melinda Nadj Abonji, Milena Moser, Sibylle Berg, Elena Ferrante, Donna Leon, Karen Duve, Rajaa Alsanea oder Irmgard Keun. Und ich habe mir vorgenommen, die nächsten Jahre bewusst nur noch Werke von Frauen* zu lesen, aktiv nach ihnen zu suchen – auch von anno Tobak, auch aus anderen Kulturkreisen und Welten. Von Männern war schon so viel dabei.
Übrigens, der nächste Edit-a-thon, das gemeinsame «Wikipedia-weiblicher-Machen», findet am 10. November 2021 statt.
Jana Avanzini wurde schon auf dem Schulhausplatz mit dem Spitznamen «Avanze» bedacht. Sie ist Co-Redaktionsleiterin bei Kultz, doch in dieser Kolumne lässt sie sich alle zwei Wochen über die alltäglichen K(r)ämpfe einer Feministin aus. Einer Feministin in der Zentralschweiz, wo man(n) sich noch gerne über aufmüpfige Frauen und Genderwahnsinn ärgert.