Prime Time
Martial Arts-Ikone Michelle Yeoh kämpft sich in «Everything Everywhere All at Once» als Wäschereibesitzerin durch immer verwirrendere Parallelwelten.
Sarah Stutte — 06/29/22, 10:35 AM
(Foto: Leonine Studios)
Schon bevor «Everything Everywhere All at Once» überhaupt in den US-Kinos anlief, wurde er zum nächsten «Big Thing» erkoren. Die Premiere im März 2022 auf dem texanischen South by Southwest Film Festival sorgte für einen regelrechten Festival-Siegeszug. Die Fans überschlugen sich in Lobeshymnen auf zahlreichen Bewertungsplattformen und die europäischen Verleiher kämpften – erfolgreich – darum, den ungewöhnlichen Streifen auch in die hiesigen Säle zu bringen.
Kurz: Diesen Kinostart begleitete eine mit fiebriger Spannung getriebene Erwartungshaltung. Erfüllt wird diese auf jeden Fall für diejenigen, die sich auf den darin enthaltenen Wahnsinn einlassen. Schauspielerin Jamie Lee Curtis, die hier neben Michelle Yeoh glänzt, hat nicht zu viel versprochen. Sie erklärte den Medien fröhlich, dass dieses Werk jeden Marvel-Film in den Schatten stelle. Tatsächlich kommt hier das Multiversums-Thema um einiges besser zur Geltung als beispielsweise noch einige Wochen zuvor in «Dr. Strange and the Multiverse of Madness». Der Grund ist nicht nur künstlerischer Natur – auch inhaltlich hat das Alles-auf-einmal-Ding mehr zu bieten.
Evelyn Wang (Michelle Yeoh) ist desillusioniert und erschöpft. Zusammen mit ihrem stets optimistischen Ehemann Waymond (Ke Huy Quan) betreibt sie einen Waschsalon, der mehr schlecht als recht läuft. Beiden sitzt das Steueramt in Gestalt der furchteinflössenden Prüferin Deirdre Beaubeirdra (Jamie Lee Curtis) im Nacken. Zudem steht die Beziehung ohnehin kurz vor dem Aus und die Teenagertochter will sich vor dem extra zum traditionellen Neujahrsfest aus China angereisten Grossvater (James Hong) als lesbisch outen – der obendrein noch umsorgt werden muss. Insgeheim fragt sich Evelyn also, ob ihr Leben nicht stressfreier ausgesehen hätte, wenn sie statt Ehefrau besser Sängerin, Schriftstellerin oder Therapeutin geworden wäre.
Die Antwort folgt auf dem Fuss im Fahrstuhl des Finanzamts. Hier verwandelt sich der sonst so ruhige Waymond plötzlich in eine Action-Man-Version seiner selbst aus einem anderen Multiversum. Der perplexen Evelyn wird eröffnet, dass sich Waymond 2.0. auf einer Mission befindet. Diese beinhaltet, «die Eine» zu finden, die alle Welten vor der ultimativen Zerstörung durch das allmächtige Raum- und Zeitspringerwesen Jobu Tupaki retten kann. Natürlich soll Evelyn diese Antiheldin sein, denn «jede Zurückweisung, jede Enttäuschung hat dich zu diesem Moment geführt», betont der fremde Waymond. Deshalb wäre Evelyn in Wirklichkeit zu allem fähig.
(Foto: Leonine Studios)
Das Filmemacher-Duo Daniel Kwan und Daniel Scheinert (kollektiv bekannt als «daniels») drehte Musikvideos und Internet-Kurzfilme, bevor sie 2016 ihren abgefahren- warmherzigen «furzende Leiche»-Film «Swiss Army Man» drehten. Für «Everything Everywhere All At Once» haben sie sich angeblich von dem japanischen Künstler Ikeda Manabu inspirieren lassen. Dessen komplizierte und detaillierte Werke muten aus der Nähe chaotisch an und wirken aus der Ferne doch irgendwie klar. Ähnliches gilt für diesen Film, der seine Protagonistin auf die Reise durch zunehmend beklopptere Welten schickt – in einer hat sie Würste als Finger – und trotzdem dabei eine erkennbare übergreifende Struktur beibehält.
Wenngleich die fantastischen Elemente optisch beindruckend sind, setzt sich der Film doch mit sehr bodenständigen Themen auseinander. Es geht um Mütter und Töchter oder Töchter und Väter, Ehemänner und Ehefrauen, Erwachsenwerden und Coming-Out, Träume und Enttäuschungen, Anderssein und Zugehörigkeit, Generationsunterschiede und Informationsüberflutung. Die Probleme, die in dieser Science-Fiction-Geschichte angesprochen werden: ein Leben voller gebrochener Momente, Widersprüche und Verwirrung, in dem die Dinge nur flüchtig einen Sinn ergeben, sind unverkennbar menschlich.
«Everything Everywhere All at Once» ist ein Irrsinn, der sich in grenzenlosem Einfallsreichtum und rasantem visuellen Witz niederschlägt.
Darüber hinaus streuen die «daniels» in die abgefahrene Handlung zahlreiche Filmverweise: Es gibt stimmige Anspielungen auf «Matrix», «Fight Club», «2001: Odyssee im Weltraum», «In the Mood for Love» oder «Ratatouille». Alles wird mit Elementen von Jackie-Chan-Martial-Arts-Epen, mexikanischen Lucha-Filmen und dem spielerisch-bunten Ethos von Michel Gondry vermischt. Die reichhaltige und komplexe Filmmusik der amerikanischen Experimentalband Son Lux wirft alles in die Waagschale, von psychedelischen Klängen bis hin zu melancholischen Fragmenten von Debussys Clair de Lune.
«Everything Everywhere All at Once» ist ein Irrsinn, der sich in grenzenlosem Einfallsreichtum und rasantem visuellen Witz niederschlägt. Doch das, was die Geschichte antreibt ist das Herz, das in der leidenschaftlichen Performance von Michelle Yeoh laut und hörbar schlägt und die Emotionen auf das Publikum überträgt. Das Ergebnis ist vielleicht ein bisschen zu lang und überladen und eventuell hätte hier und da eine noch tiefere Figurenzeichnung gut getan. Doch am Ende hat man sicher gelacht, geweint, über das eigene Leben nachgedacht und etwas gesehen, das man im Kino nicht alle Tage zu sehen bekommt.