Bildbetrachtung
Wenn man bei Helene Fischer die Texte wegdenkt und die Musik und den Sound und den Stil, ist das gar nicht mal so schlecht. Aber natürlich hat mich Sophie Hunger mehr geprägt.
Christov Rolla — 05/14/21, 04:16 AM
Mann, ohne Xander wäre das eine richtig geile Probe gewesen. Ich finde, wir sollten ihn rausschmeissen. Er ist der Einzige, der keine Fortschritte macht. Ich mein’, es ist ja nicht so, dass er faul wäre oder untalentiert. Sein Solo bei «Heavy Eyes» ist leider ziemlich geil. Aber seit er bei der Vorrunde des «Give a band a hand»-Wettbewerbs im Souterrain für just dieses Solo einen Extraapplaus bekommen hat, und obendrein von Sile und seiner Clique, mitsamt Wuhuuu und anerkennendem Nicken, nur weil ihm grad so in den Sinn gekommen ist, dass er sich zum Schluss des Solos in die Knie werfen könnte, was für eine billige Pose, und ekelhaft phallisch noch dazu – dabei verstehen wir uns als antipatriarchalische Band! – … jedenfalls: Seit jenem Abend im Souterrain ruht er sich auf seinem Erfolg aus und hat das Gefühl, dass er angekommen ist. Dass er nichts mehr lernen muss. Seither hat er auch die Hingabe beim Jammen verloren, und die Hälfte von dem, was er spielt, klingt wie ein lahmer Abklatsch von seinem «Heavy Eyes»-Solo, weil er versucht, dieselben Licks noch einmal zu bringen, aber die zünden jetzt natürlich nicht mehr. Und alles andere klingt wie von Sonic Youth oder The Notwist geklaut und desinteressiert nachgespielt.
Richtig üben tut er erst recht nicht mehr. Ausser das «Heavy Eyes»-Solo, aber das kann er ja schon so gut, das wird höchstens wieder schlechter. Jedenfalls kommen wir so als Band einfach nicht weiter.
Früher war das anders, da hatte er noch Ambitionen. Bei unserer ersten Bandbio zum Beispiel hat er Jennifer Batten als wichtigsten Einfluss erwähnt. Klar, die hat er primär genommen, weil wir beschlossen hatten, ein Zeichen für den Feminismus zu setzen, und deswegen nannten wir absichtlich alle eine Musikerin als Vorbild. Chregi zum Beispiel schrieb Carol Kaye, und Joel nannte Cindy Blackman. Aber das war nicht nur ein Feigenblatt! Wir haben uns völlig ernsthaft auch mit der Musik auseinandergesetzt. Durch Chregis Beschäftigung mit Carol Kaye wurde sein Sound zum Beispiel wärmer, und er findet immer mehr interessante Basslinien heraus. Und Cindy Blackmans Musik hat definitiv auch einen Einfluss gehabt, ich würde sagen, auf der rhythmischen Ebene sind wir wesentlich vielfältiger geworden.
Ich als Sänger konnte mich lange nicht entscheiden für das Bandbio-Vorbild, ich schrieb zuerst Sophie Hunger, dann Aretha Franklin und schliesslich Helene Fischer. Das hat natürlich super zu unserer antipatriarchalisch zwar ernsthaften, künstlerisch aber ironischen Grundhaltung gepasst, vor allem im Kontrast zu den anderen drei Musikerinnen. Der Punkt ist: Helene Fischer macht zwar Scheissmusik, ist aber streng genommen eine richtig gute Sängerin. Da habe ich mir dann wirklich ein paar Sachen von ihr mit Hinblick auf den Gesang angehört. Wenn man die Texte wegdenkt und die Musik und den Sound und den Stil, ist das gar nicht mal so schlecht, im Fall. Aber natürlich hat mich Sophie Hunger mehr geprägt. Es ist fast unmöglich, sich bei unserer Musik nicht von Sophie beeinflussen zu lassen, nur schon diese leicht verpeilte, nuschelige Artikulation, die sie manchmal anwendet, die passt super zu den hypnotischeren Sachen von uns.
Aber item: Chregi, Joel und ich haben es voll durchgezogen, während Xander den Schwanz eingezogen hat. Denn eine Woche, nachdem wir den Insta-Post mit unseren Vorbildern gemacht hatten, hat er den Post ohne Absprache wieder gelöscht und einen neuen gemacht, bei dem seine Lieblingsgitarristin plötzlich «Alewtina Fedotowa» hiess. Das ist so billig und so durchschaubar! Als ob es eine Gitarristin namens Alewtina Fedotowa gäbe! Der hat doch bloss keine Lust gehabt, sich in die Technik von Jennifer Batten einzuarbeiten, und darum einfach eine Gitarristin erfunden.
«Bisschen Sonic Youth, bisschen Eigenplagiat, und der Rest ist desinteressiertes Dudeln.»
Also, ich will nicht ausschliessen, dass es irgendwo in den Weiten Russlands eine Frau gibt, die tatsächlich so heisst und zufälligerweise auch noch Gitarre spielt. Aber ich verwette meine Jaguar, dass Xander lügt, wenn er behauptet, er habe in der Plattensammlung des Freundes seiner Mutter eine Schwarzpressung einer Postrock-Band namens «Tetravolt Mufflon» aus Perm entdeckt, frühe 90er vermutlich, unglaublich tolle, progressive, intensive Musik, und was die Gitarrenarbeit betreffe, so habe diese ihn komplett geflasht, und die Gitarristin heisse gemäss Cover Alewtina Fedotowa, mehr wisse er nicht, und die Platte könne er nicht mitbringen, weil der Oli ja bekanntlich in Lugano lebe und ausserdem seine Platten aus Prinzip nicht ausleihe, vor allem nicht eine Rarität wie diese, aber vielleicht könne er, Xander, sie ja mal kopieren, und abgesehen davon seien wir Ärscher, dass wir ihm nicht glaubten.
Aber wenn diese Fedotowa wirklich so inspirierend ist, wie Xander behauptet, dann stellt sich immer noch die Frage, warum das in seinem Spiel nicht den geringsten Niederschlag findet. Ich sagte es ja schon: Bisschen Sonic Youth, bisschen Eigenplagiat, und der Rest ist desinteressiertes Dudeln und darauf warten, dass wir «Heavy Eyes» spielen und er endlich wieder sein blödes Solo abdrücken kann, um im Idealfall Leute wie Sile und seine Clique zu beeindrucken. Obwohl die ja eigentlich mehr so im Punkrock zuhause sind und es dort so gut wie nie ein Solo gibt.
Ich bin mittlerweile ziemlich sicher: Die haben den Applaus und das Wuhuuu damals ironisch gemeint. Und Xander hat es nicht gemerkt.
Ausserdem möchte ich betonen: Als wir darüber abstimmten, ob es bei «Heavy Eyes» überhaupt ein Solo geben soll, ging es zwei zu zwei unentschieden aus. Der einzige Grund, warum es jetzt eines gibt, ist, dass wir in der Werkstatt von Xanders Onkel Pänggu proben dürfen.
Und das macht es leider auch so schwierig, ihn hochkant rauszuschmeissen.
# Christov Rolla ist eigentlich Musiker. Für diese Kolumne aber versetzt er sich in Menschen und an Orte. Manche bezeichnen dies als Rollenprosa, andere als redselige, ausschweifende und komplett herbeifabulierte Selbstgespräche. Wir nennen es: Bildbetrachtung. Mit freundlicher Unterstützung der Kulturförderung des Kantons Luzern.