Vom Seetal zum Sonnenberg
B-Sides-Mitgründer Marcel Bieri tritt im Luzerner Musikbetrieb kürzer. Wer ist eigentlich der Mensch, der mit 41 Jahren noch immer am Puls der Zeit sein will?
Ramon Juchli — 03/31/21, 11:24 PM
Ein Sohn des Seetals, umtriebiger Stadtluzerner und bald Wahlzürcher: Marcel Bieri hat bereits viele Stationen hinter sich. Foto: Florian Bachmann
«Das Festival ist voll am Laufen», scherzt Marcel Bieri über seinen virtuellen Zoom-Hintergrund. Dieser zeigt das B-Sides Festival bei Nacht, der Krienser Sonnenberg voller Menschen. Ob das Festival dieses Jahr durchgeführt werden kann, steht in der Schwebe. Genauso wie Bieris berufliche Zukunft. Beim B-Sides gibt er Verantwortung ab, bei der Netzwerk-Plattform Other Music Luzern räumt Bieri Ende März den Co-Präsidiums-Posten. «Ich brauche mal wieder eine Auszeit.» Und gleichzeitig kündigt er ein neues Projekt an. Aber dazu später.
Die Ruhepause scheint verdient. Um Bieri ist es in den vergangenen zwei Jahrzehnten nie still geworden. Sei es als umtriebiger Konzertveranstalter, Musikchef bei Radio 3fach oder eben als Festivalplaner und Netzwerker. Bieri wirkte stets getrieben, hungrig auf das nächste Projekt. Dieser Hunger scheint noch nicht gestillt zu sein. Im zweieinhalbstündigen Gespräch ist Bieris Leidenschaft für seine Arbeit immer noch zu spüren. Für ihn geht es dabei mehr als bloss um Musik. Immer wieder redet er von Werten, Vielfalt und «Lebenskultur».
MTV statt Fasnacht
Bieris Sehnsucht nach Idealismus hat viel mit dem Seetal zu tun. Stets strebte er ein Leben an, das er in seiner Kindheit in der luzernischen Peripherie nicht vorgelebt bekam. Dort begann seine Suche nach dem alternativen Glück in der bürgerlichen Gesellschaft.
Über Aesch gibt es nicht viel zu sagen, meint Bieri. Und spricht dann doch eine gute halbe Stunde über den Ort seiner Jugend. Es sind Geschichten aus den tiefen 90er-Jahren. Von einem Ort, an dem die Fasnacht, Dorfturniere und vereinzelte Musikevents die kulturellen Höhepunkte setzten. Währenddessen entwickelte sich Bieris kulturelles Bewusstsein in eine ganz andere Richtung. MTV wurde für ihn zum Tor zur Welt. Er besuchte Konzerte in Zürich, wollte weiterführen, was in der 80er-Bewegung in Luzern entstanden war. Für diese Art von Kultur gab es im Seetal in Bieris Jugend wenige Orte. «Das prägt mich bis heute.»
«Jugendkultur nahm man an. Aber es gab keinen Plan, keine Vision für diese Art von Kultur.»
Bieri trat an, diese Angebote zu ergänzen. Um die Jahrtausendwende organisierte er mit einem Veranstalterteam seine ersten Konzerte im Brauiturm Hochdorf, die Veranstaltungsreihe «Towerconcerts». Denkt er heute an diese Zeit zurück, schwingt nebst positiven Gefühlen stets auch Bitterkeit mit. Er habe zwar viele Freiheiten bekommen, dank vielen Stunden ehrenamtlicher Arbeit hätten die Veranstaltungen die Vereinskassen gefüllt, und weitere Events ermöglicht. Aber: «Für unsere Arbeit gab es politisch kaum Wertschätzung.» Daran konnten auch die über 1000 Tickets nichts ändern, die Bieri und Konsorten Anfang der 2000er-Jahre für die Jubiläumskonzerte des Kulturzentrums verkauft haben. «Wir haben die huere Hötte gefüllt.» Kurz darauf brach er mit seinen Mitstreitern die Zelte in Hochdorf ab. «Jugendkultur nahm man an. Aber es gab keinen Plan, keine Vision für diese Art von Kultur.»
Alternativkultur im «Blasmusik-Kanton»
Bieri versuchte sein Glück in Luzern. Seine Arbeit stiess hier auf grössere Akzeptanz als im Umland. Das motivierte ihn. Er begann immer mehr zu geben, musste keine Kompromisse eingehen, fand Anknüpfungspunkte in der Boa, im Werkhof, im Sedel, Treibhaus, Schüür. Als Musikredakteur von Radio 3fach wurde er zur wichtigen Drehscheibe der städtischen Musikszene und als Teil der Putzequipe von Funk am See erhielt er erste Einblicke in die Organisation eines Festivals.
All das mündete 2005 in der Gründung des B-Sides. Der Erfolg des Festivals habe einmal mehr gezeigt, dass Musikkultur im «Blasmusik- und Klassikkanton» auch anders möglich ist. «Ich bin mega zufrieden, wie das B-Sides mit Luzern verwachsen ist», sagt Bieri, der zu Beginn die Gesamtkoordination des Festivals machte, und inzwischen für Programm und Netzwerk verantwortlich ist. Wer offen sei für aktuelle und spannende Musik, sei willkommen. «Das Festival ist keine ideologische Veranstaltung.»
Dennoch ist für Bieri Kultur zwangsläufig mit Politik verknüpft. Diese hinke dem kulturellen Geschehen hinterher, merke oft zu spät, wenn neue kulturelle Strömungen entstehen. Oder versuche diese Entwicklungen zu steuern: Die Schliessung des Kulturzentrums Boa etwa, sei «von langer Hand geplant» gewesen. Der Quasi-Ersatz durch den Südpol habe so nicht funktioniert – weil zu Beginn «die Politik die Zügel zu fest in der Hand hatte.»
Kritik an der Geldverteilung
Die Zügel der Politik kriegte Bieri auch am eigenen Leibe zu spüren. Nämlich, wenn es ums Geld geht. Er kritisiert den behördlichen Verteilungsschlüssel der Fördergelder. Während die Hochkultur Millionenbeträge für den ganzjährigen professionellen Betrieb gesprochen kriegt, fehlen Vereinen wie dem B-Sides die Mittel, um Projekte nachhaltig weiterentwickeln zu können.
Ohne Gratisarbeit sei das Festival finanziell nicht tragbar, so Bieri. «Unsere Kultur lebt davon, dass aus wenig viel gemacht wird.» So werden Projekte wie beispielsweise das Neubad möglich. Aber: «Die Menschen sollen nicht immer an ihre Grenzen gehen müssen, um ihre Ideen umzusetzen.» Er wünscht sich, dass zumindest die leitenden Positionen angemessen entlohnt werden.
Alles bloss Vetterliwirtschaft?
Im Spannungsfeld zwischen Wirtschaftlichkeit und Do-It-Yourself-Attitüde, Kunst und Kommerz, bewegt sich auch Bieris bis dato jüngstes Projekt. 2018 initiierte er die Netzwerk-Plattform Other Music Luzern (OML). «Netzwerk-Plattform» klingt wie ein Studentenverbindungs-Apéro an der HSG – und tatsächlich schreckt der Name das Zielpublikum zum Teil ab. «Vernetzen klingt für viele nach verkaufen», räumt Bieri ein.
«Das Business kann dem Musikmachen die Magie nehmen.»
Er sieht Networking für Musiker*innen als bereichernden Prozess, um neue Türen aufzustossen. Kommt Erfolg also durch ein paar ausgetauschte Visitenkarten und Handshakes? Die lokale Musikindustrie eine Vetterliwirtschaft? So würde es Bieri nicht ausdrücken. «Vetterliwirtschaft ist ja ein niedliches Wort für Korruption.» Die finde aber sicher nicht in der aktuellen Musikszene statt. «Aber das Business kann dem Musikmachen die Magie nehmen», gibt auch Bieri zu. Nach zweieinhalb Jahren zieht sich Bieri nun bei OML zurück. «Das war aber von Anfang an so geplant.»
Stattdessen will sich Bieri wieder verstärkt bei Say Hi! engagieren, der ersten von ihm und Jennifer Jans gegründeten Netzwerk-Plattform, die aus dem B-Sides entstanden war. Dabei steht die Verknüpfung von Musikschaffenden auf nationaler Ebene im Fokus.
Neue Ufer
Bieris nächstes Projekt dreht sich ebenfalls um Vernetzung, um «Lebenskultur» – doch die politische Dimension des Projekts ist eklatanter. In Zusammenarbeit mit einem tunesischen Festival will er nordafrikanische und europäische Musikkultur näher zusammenbringen. Sobald dies wieder möglich ist, reist er mit der Fähre nach Tunesien. Eine Reise mit humanitärem Grundgedanken. In die andere Richtung sind noch immer geflüchtete Menschen in Gummibooten unterwegs. «Die prekären Situationen in Nordafrika und Griechenland gehen mir nahe», sagt Bieri. «Man gibt den Geflüchteten nicht die Chance, Mensch zu sein.»
Er möchte die Ungleichheit etwas einebnen, und nordafrikanische Musiker*innen als gleichberechtigte Partner*innen nach Europa holen, während Schweizer*innen den umgekehrten Weg gehen sollen. Auch in anderen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens möchte Bieri mit weiteren Akteuren aus der Schweizer Musikszene im Bereich der Musikkultur «Brücken bauen». Letzten November ermöglichte der Austausch drei Auftritte von libanesischen und syrischen Musiker*innen (Bedouin Burger und Ernesto Chahoud) in Luzern, Zürich und Basel.
Abschied aus Luzern
Auch innerhalb der Schweiz steuert Bieri neue Ufer an. Er wird Luzern verlassen. «Für die Grösse der Stadt gibt es hier viele coole Sachen.» Trotzdem zieht es ihn wohl bald nach Zürich – aus privaten Gründen. Dieser Drang nach Veränderung ist typisch Bieri. Nie will er stehen bleiben, seinen Platz immer wieder neu (er)finden. «Sesselkleberei ist mir ein Graus.»
«Ich hoffe, ich kann es dann annehmen, wenn mir jemand sagt, meine Zeit sei abgelaufen.»
Doch ist der Ü40-Jährige nicht langsam zu alt dafür, ständig am Puls der Zeit zu bleiben? Bieri winkt ab. Noch sei er nicht zu alt, um an den wichtigen Stellen mitzumischen. Aber irgendwann werde er seinen Platz räumen. «Ich hoffe, ich kann es dann annehmen, wenn mir jemand sagt, meine Zeit sei abgelaufen.»
Marcel Bieris Anspiel-Tipps Aufwachsen im Seetal: Solitune und Highfish. Diese zwei Bands waren prägend damals im Seetal. Padi und Reto von Solitune haben dann auch das B-Sides mit mir und Edina gegründet. Der Soundtrack deiner Jugend: Marygold. Mit dieser Band habe ich viel Zeit verbracht. Ein unerfüllter B-Sides-Wunsch: Luzern in einem Song: Nachmittags um 4 von den Kronzeugen. Mit dem coolsten Gitarristen dieser Stadt ist Sami Gallati von Mothers Pride gemeint. Und er ist es immer noch :) Die Musik der Gegenwart: |