Berisha, Bürli und der Brünig
«Diebe» haben das Naturfreundehaus auf dem Brünig übernommen. Während Wandernde die Betten füllen, sollen Autoren und Malerinnen im Atelier Muse spüren, Bands daneben Musik aufnehmen. Doch: Wann legen die Neuen richtig los?
Jonathan Furrer — 04/14/21, 04:33 AM
Rauchpause auf dem Brünig. (Alle Fotos: Jonathan Furrer)
An jenem Samstag Ende März als sich der Frühling wieder verabschiedet, steht das Pächterpaar auf der Terrasse des Naturfreundehaus Brünig. Rauchpause. «Hier haben wir zwei Bäume gefällt», sagt Bujar Berisha und zeigt Richtung Wald. «Jetzt stehen da zwei Hochbeete.» Die Holzkästen sind allerdings nicht zu erkennen – es liegt noch immer viel Schnee auf 960 M.ü.m. Nun deutet auch Lili Vanilly, die neben Berisha steht, zum Hügel. «Da hinten wollen wir ein Amphitheater bauen.» Spriessende Gemüsebeete, lebendige Theaterbühne: nur zwei Projekte auf einer langen Liste, welche – geht es nach dem Pächterpaar – im und ums Naturfreundehaus verwirklicht werden sollen. Seit zwei Stunden schon erzählen Bujar und Lili wie sie hier oben gelandet sind, warum sie Pächter des Naturfreundenhauses wurden und vor allem: Was sie mit dem Haus vorhaben.
Es bleibt eine Herberge. Der Jakobsweg führt vor der Türe vorbei, Pilger und Wandererinnen schlafen hier. Ebenso Naturfreunde und bald, so die Hoffnung, auch Musikerinnen und Künstler. Bewirtet wollen auch Tagesausflügler werden, welche für ein Stück Kuchen oder ein Getränk vorbeischauen. Vielleicht würden sich andere Gastgeber erstmals damit zufriedengeben, Künstler und Künstlerinnen zu betreuen, Bands zu vertonen, durstige Wandernde zu verpflegen und müde Pilger einzulogieren. Nicht so die Neuen auf dem Brünig, sie wollen ihre Gäste auch weiterbilden. Bujar kann sich vorstellen, einen Fotokurs anzubieten, Lili beispielsweise Wanderungen in der Umgebung «die Sinne zu schärfen». Die 33-Jährige möchte «den Menschen etwas weitergeben», dies weil doch «jeder ab 30 irgendwie zum Lehrer wird». Apropos Lehrer: Ein Kellerraum solle als Yoga-Studio umgenutzt werden, allerdings müssten da Externe unterrichten.
Bei so viel Konjunktiv empfiehlt es sich, chronologisch vorzugehen und erst einmal die gesicherten Fakten anzuschauen.
Der Beginn in den Bergen
Beginnen wir also mit den Naturfreunden. Deren Wurzeln liegen in der Arbeiterbewegung des späten 19. Jahrhundert. Man bekennt sich zum demokratischen Sozialismus und betreibt europaweit fast 1000 Naturfreundehäuser. Die Naturfreunde Schweiz zählen an die 13 000 Mitglieder, es gibt rund 80 Häuser, welche Gruppen oder Einzelgästen günstige Übernachtungen anbieten.
Das Haus auf dem Brünig wurde 1949 erbaut. Doch mit den gestiegenen Ansprüchen der Gäste sanken in den vergangenen Jahren die Übernachtungszahlen für die 60 Schlafplätze. Im Juni 2020 schalteten die Naturfreunde Sektion Emmenbrücke ein Inserat, gesucht wurden neue Pächter. Das Gebäude sollte als Naturfreundehaus erhalten bleiben, die Anzahl Betten aber reduziert und neue Angebote geschaffen werden. Der Rest ist bekannt: Bujar und Lili bewarben sich und erhalten den Zuschlag. So kommt es, dass Liliane Bürli, wie Lili Vanilly mit bürgerlichem Namen heisst, im Sommer ihren Wohnsitz auf den Brünig zügelt.
Aufgewachsen ist sie in Langnau bei Reiden, zuletzt lebte sie in Luzern. Dass sie nun zusammen mit Bujar aus der Herberge auch ein Kulturhaus machen möchte, kommt nicht von ungefähr, hat sie doch Kulturwissenschaften und -vermittlung studiert. Als selbstständige Webdesignerin erarbeitet sie Konzepte für den Auftritt von Firmen oder Privatpersonen. Eine Tätigkeit, welche sie weiter, gerne auch für die kommenden Gäste des Naturfreundehauses, ausüben möchte.
Der 36-jährige Bujar Berisha kam als Achtjähriger vom Kosovo in die Schweiz. Im vergangenen November wurde ihm der Emmer Kulturpreis verliehen. Begründet wurde die Wahl mit der «Einzigartigkeit seiner multidisziplinären Arbeit». Tatsächlich ist Berishas Betätigungsfeld gross. Er ist: Musiker, Schriftsteller, Drehbuchautor, Musikproduzent, Reporter, Grafiker, Designer. Und Fotograf, jenen Beruf, den er tatsächlich erlernte. Der vielseitige Kulturschaffende ist Vater von zwei Kindern und sass für die SP für vier Jahre im Emmer Einwohnerrat. Im vergangenen März war er einer von drei Parlamentariern mit ausländisch klingendem Namen, welche abgewählt wurden.
Gemeinsam treten Lili und Bujar als Künstlerkollektiv «die Diebe» in Erscheinung. Und zumindest in der Luzerner Kulturszene geniessen sie mit ihren Projekten und Produktionen eine gewisse Popularität. Was sie tun, beschreiben sie auf ihrer Homepage folgendermassen: «Ein schwellenlos exponentieller Handel und eine konkurrenzlos universelle Brutstätte der Künste». Das könnte man vermutlich auch einfacher und aussagekräftiger ausdrücken, ist aber wohl gar nicht gewollt – die Diebe treten nicht nur manchmal mit Sturmmaske auf, sie legen auch sonst nicht allzu viel Wert auf Transparenz, mögen es, ein bisschen Verwirrung zu stiften.
Ein Versuch ohne Anspruch auf Vollständigkeit, etwas Licht in das Wirken des Duos zu bringen: Bujar und Lili musizieren, schreiben, filmen, fotografieren, vermitteln oder konzipieren. Sie produzieren: Kinderbücher, Propagandaschriften, Büchlein, Kalender, Musik oder die Youtube-Satireshow «Danachrichten». Sie experimentieren mit ihrem Leben als Kunstschaffende und ihren Engagements, in welchen sie verschiedene Persönlichkeiten darstellen. Bujar tritt als Geri Weber, Spirit oder Königswasser auf. Lili verwandelt sich in Petra Galli, Mater oder SEWN. Dabei sind sie oft politisch, die Inhalte dezidiert links und systemkritisch. Da sich aber auch die selbsternannte «Agentur der Künste» irgendwie finanzieren muss, bieten die Diebe beispielsweise Rundumbetreuung für Musikschaffende (von Tonaufnahmen bis Gestaltung der Webseite) an. Oder sie monetarisieren im Online-Shop ihre antikapitalistischen Propagandaschriften.
In jeder Ecke ein Projekt
Der Weg zum Naturfreundehaus dauert zu Fuss rund zehn Minuten und führt vom Bahnhof Brünig-Meiringen entlang der Passstrasse, später über ein matschiges Strässchen. Zu den unkonventionellen Herberge-Pächter passt, dass bereits der Haus-Einlass für die erste Verwirrung sorgt. Ein Eingang ist auf den ersten – und auch auf den zweiten – Blick nicht auszumachen. Gang ums Haus, die Treppe hoch, läuten an einer unbeschrifteten Klingel. 10 Uhr morgens, Bujar öffnet die Tür, hinter ihm erscheint Lili. Er trägt Kapuzenpulli, Jeans, Halbbart; sie Strumpf- und Latzhose, Brille, die Haare wild.
Die beiden bitten in die grosse Stube, wo Privat und Öffentlich verschmelzen. Ledersofa, Schwedenofen, Instrumente, Schnapsflaschen und Bücher in Weinkisten – dieser Raum soll schon bald Zeuge werden von musizierenden Künstlerinnen, ruhenden Wanderern und durstigen Tagesgästen. Auf dem langen Holztisch liegt – mit farbigem Filzstift auf sieben A4-Blättern niedergeschrieben – das neue Betriebskonzept des Naturfreundehauses. Mit derselben analogen Powerpoint-Präsentation haben sich Bujar und Lili im vergangenen Juli bei den Naturfreunden vorgestellt – bekanntlich ziemlich erfolgreich.
Wir haben keinen Anspruch auf Perfektion.
Lili Bürli
Lili übernimmt das Reden, Hände und Oberkörper stets in Bewegung. Vor und zurück. Das Naturfreundehaus der Zukunft hat in ihrem Kopf schon längst Gestalt angenommen. Sie spricht über Projekte, führt Ideen und Pläne aus, gibt Einblick in ihre Gedanken und Erwartungen. Ihre verschiedenen Kunstfiguren vor dem inneren Auge, drängt sich Frage auf: Ist das Lili? Oder übernimmt gerade eine der Figuren? Vis-à-vis hat Bujar Platz genommen. Seine Finger zerbröseln Tabak oder greifen nach der Kaffeetasse, der Blick ist gesenkt. Nicht aus Verschämtheit oder Desinteresse. Bujar ist ein wachsamer Zuhörer, legt Lili eine Sprechpause ein, springt er ein und vervollständigt die Ausführung. Oder er liefert einen verbalen Steilpass, den die Co-Pächterin dankend aufnimmt. Erst spricht er zögernd und gedämpft, später überzeugter und lauter. Aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse habe er die Rolle des Beobachters, die des Aussenseiters, bereits in seiner Kindheit eingenommen, sagte Bujar 2019 in einem Interview.
Ob gewollt oder nicht: Das ganze Gespräch mit Bujar und Lili gleicht einem spontan inszenierten Schauspiel, welches offensichtlich machen soll: Hier verstehen und ergänzen sich zwei kreative Köpfe. Visionär und Verkäuferin, Träumerin und Macher.
Bandraum für relevante Musik
Seit August leben Bujar und Lili nun hier oben. Über all die Jahre hatte sich einiges Material angesammelt, so entsorgten sie erstmals muldenweise alte Möbel, kaputte Kühlschränke oder Dekomaterial, nicht nach ihrem Geschmack. Auf der dritten Etage haben sie ihre Privaträume eingerichtet, zwei Zimmer sind reserviert für Bujars Kinder.
Ist der Dachstock erst einmal fertig ausgebaut – noch so ein Projekt «in progress» – soll er als Wohnzimmer genutzt werden. Die Anzahl Betten wird auf 30 reduziert, dafür Platz für zwei Ateliers geschaffen. Maler oder Autorinnen sollen in der Abgeschiedenheit des Naturfreundehauses Muse und Ruhe finden. Im Parterre, im Raum neben der Gaststube, stehen: Schlagzeug, Mikrofonständer, Keyboard, Klavier, Gitarren – Bands sollen optimale Verhältnisse zum Üben und vertonen ihrer Musik vorfinden. Die eingespielten Klänge werden ein Stockwerk höher, im mit einer Treppe direkt verbundenen Regieraum, aufgenommen und gemischt. Die Grösse des Mischpults erinnert an vergangen geglaubte Zeiten, die eigentlich gar nicht so lange her sind. Zuletzt hat man so eine Anlage an einem Open-Air oder in einem Konzerthaus gesehen. Hier sitzen die Gastgeber an den Reglern, stehen den Bands mit Rat und Tat zur Seite. Und klar: Diese können auch gleich eine Homepage, ein Schaltplattencover oder den Vertrieb ihrer Musik in Auftrag geben. Bühne frei für Bands aus allen Genres – sofern diese «eine gewisse Relevanz» haben, erklärt Lili.
Und welche Musik ist relevant? Augen verengen, Lippen verschliessen sich. Lilis Antwort lässt ungewohnt lange auf sich warten. Und sie ist kompliziert. Klar wird: «Es geht nicht darum, wie cool jemand ist, sondern ob der oder diejenige etwas bewegen will.» Daher könne durchaus auch Radiomusik oder Mundartrocker relevante Themen ansprechen.
Bujar ist sich sicher: «Dafür besteht in der Musikszene eine genügend grosse Nachfrage.» Im November fand so etwas wie die Generalprobe für das Musikstudio statt. Zehn Bands kamen auf den Brünig und spielten Musik ein. Entstanden ist ein Kalender mit zwölf Songs, der über den Online-Shop verkauft wird. Für den Aufwand verlangten Bujar und Lili kein Geld – sie schenkten den Bands die Aufnahmen. Man habe den Musikschaffenden in diesen schwierigen Zeiten einfach etwas Freude bieten wollen. Zukünftige Bands sollen aber durchaus «marktübliche Preise» bezahlen. Allerdings wissen die meisten noch nichts von den «Brünig Studios», wie auch? Das neuen Pächterpaar hat noch kaum Werbung für ihre Angebot gemacht. Selbst auf ihrer Homepage sucht man vergebens einen Hinweis. Wieso dem so ist, erklärt Lili mit Priorisierung: «Wir sind in erster Linie ein Beherberungsbetrieb, mit den verschiedenen Dienstleistungen möchten wir uns ein zweites Standbein aufbauen, daher gehen wir dies nach und nach an.»
Toleranz ist gefragt
Das Betriebskonzept sieht vor, dass zukünftig ein Viertel der Einnahmen des Hauses mit Übernachtungen generiert werden. Wie Lili sagt, waren die Betten im vergangenen Herbst gut nachgefragt.
Die Gastgeber legen Ideen und Pläne mit grosser Ernsthaftigkeit dar, sie scheinen von sich und ihren Möglichkeiten überzeugt. Doch wer genau hinhört, kann sie hören, die kleinen und grösseren Unsicherheiten. Sätze beginnen mit «vielleicht», andere enden mit «je nachdem». Vielleicht äussern sich Zweifel an der Verwirklichung eines Vorhabens auch, wenn Lili etwa sagt: «Wir haben keinen Anspruch auf Perfektion», und Bujar hofft, dass «die Gäste untereinander tolerant sind». Denn, und das sei spätestens seit den ersten Proben im vergangenen Herbst klar: «Das Haus ist schon hellhörig.» Natürlich kann man sich fragen, wie viele der angedachten Projekte tatsächlich umgesetzt und welche genutzt werden. Oder man kann sich wundern, wie die verschiedenen Bedürfnisse von Gästen, Bewohnenden und Kindern nebeneinander Platz haben sollen.
Doch vielleicht behält Bujar mit seinen Worten, die er nach der Verleihung des Kulturpreises im November 2020 in das Mikrofon sprach, recht: «Unmöglich ist nur, was als unmöglich angesehen wird.»