Mit coronabedingter Kulturschliessung nehmen Livestreams nun Überhand. Eine Übertragungskritik.
Anja Nora Schulthess — 10/11/20, 08:53 AM
Um es gleich vorwegzunehmen: Es gibt positive Beispiele von Livestreams, die Ausdruck einer Reflexion des eigenen künstlerischen Schaffens und einer Auseinandersetzung mit Kontext, Medium, Form und Inhalt gleichermassen sind. Da dies Zeit, Energie und einen bestimmten Grad an Reflexionsvermögen voraussetzt, werden die guten Beispiele derzeit durch medial hysterisch überspielte Ideenarmut und viel Schrott für Auge, Ohr und Gehirn überlagert. Dazu:
Nach dem Lockdown vergingen keine drei Tage, bis online verbreitete Corona-Witze und Gejammer über abgesagte Gigs durch neue viral getriggerte Ausgeburten der post-analogen Gesellschaft abgelöst wurden. Einerseits Social-Media-Beiträge von Leuten, die Solidarität neuerdings in GROSSBUCHSTABEN schreiben (bei nicht-literarischen Texten ein Grund zum Verdacht an sich) und uns weismachen wollen, dass sie ein richtiges Leben im Falschen führen. Andererseits Livestreams von Kulturschaffenden, die die Kreativität und das Digitale an sich und sich selbst im Besonderen feiern und ihre Italianità hervorstreichen, indem sie ihre Songs, DJ-Sets und Tagebucheinträge grosszügig der Allgemeinheit laut, ungefragt und kostenlos zum Besten geben.
Bei Letzterem haben wir es je nach Perspektive mit Narzissmus und Selbstüberschätzung gepaarter Selbstausbeutung oder allgemeiner mit einer Pornografisierung der Kultur zu tun: Gebt mir eine Kamera und ich zeige mich euch, gratis, jederzeit, überall, unverbindlich, ohne Olfaktorik, ohne zwischenmenschliche Verpflichtungen – in Echtzeit, authentisch, von Couch zu Couch. Verbreitet wird das Ganze durch die «Kreativitäts-Crowd» und zur Erheiterung auch durch SRF, weil zu viele Bilder von Särgen depressiv mache und dies indirekt auch der Wirtschaft schade, wie ein namhafter, vielseitig versierter Experte via Live-Zuschaltung ins Fernsehstudio erklärt.
Kürzlich wurde mir zu meiner Erheiterung ein Beitrag eines besonders ideenreichen Musikers zugespielt. Der Drummer rief auf Facebook via Selfie-Video zu einem glorreichen Unterfangen auf: Ein Step-By-Step-Song solle entstehen, produziert von ihm selbst, sein Drum-Part mache den Anfang, der nun step by step durch Parts von anderen, die sich dabei selbst filmen, ergänzt und zu einem grossen Guss in Bild und Ton werden soll. Hell, yeah! Als erfahrene Texterin antwortete ich dem Drummer umgehend mit einem Vorschlag für Lyrics zu seinem Kollektiv-Hit: «Why don’t you shut the fuck up.» Und da ich als Autorin selbstredend keine Kapitalistin bin, verlange ich auch keine Tantiemen. Der Drummer war begeistert, meine Textzeile sei simpel, aber genial, habe einen ganz eigenen Sound und ihn gleich zu einem Fill-In-Groove inspiriert. Ausserdem sei der Text auch inhaltlich ein kluger Beitrag zur gegenwärtigen Lage. Wenn das kein Hit werde! Lyrics und Beat wurden inzwischen durch Keyboard, Gesangseinlagen, Sax, Bass, Electronics ergänzt und mit einem fancy Video unterlegt. Der Hit ist in der Postproduktionsphase. Wir sind nun alle Facebookfreunde und bestätigen uns gegenseitig täglich durch Likes und Herzchen, dass wir die Besten und EINE GROSSE FAMILIE sind. Und zum Schluss, come on, all together now: «Eis, zwei, drü, vier: Why don’t you shut the fuck up!»
Anja Nora Schulthess ist Autorin und Kulturwissenschaftlerin. Sie schreibt journalistische Beiträge, Essays, Lyrik und Prosa. 2017 erschien ihr lyrisches Debüt «worthülsen luftlettern dreck». 2020 erscheint ihr Sachbuch zu den Untergrundzeitungen der Zürcher Achtziger Bewegung im Limmat Verlag. Seit Frühling 2020 lebt sie mit ihrem Partner und ihrer Tochter in Luzern.