Von Indien nach Uri
In der kleinen Urner Berggemeinde hat sich in den 1970er-Jahren ein indischer Guru samt Anhängerschaft einquartiert. Nun stehen die Zeichen auf Abschied. Eine Geschichte von skeptischen Dorfbewohnern, begeisterten Weltstars und dem unerschütterlichen Traum vom Fliegen.
Jana Avanzini — 12/16/20, 05:37 PM
Einer der letzten Yogis in Seelisberg: Otto Odermatt beim Gang durch das alte Grand Hotel an der Dorfstrasse. Fotos: jav
Wer im Nidwalden der 90er-Jahre aufgewachsen ist, kam in der Schule nicht um Yogi-Witze herum. Wir Kinder erzählten sie weiter, bauten sie aus. Sie handelten von ein paar harmlosen Verrückten, die in Seelisberg von Frieden und Fliegen träumen.
Es ist ein Traum, dem in Seelisberg das Erwachen bevorzustehen scheint. Der Hauptsitz der Bewegung um den indischen Guru Maharishi Mahesh Yogi, genannt Maharishi, ist längst nach Holland weitergezogen. Das ehemalige Seelisberger Zuhause von Maharishi und seiner Anhängerschaft ist zum Verkauf ausgeschrieben: 27,5 Millionen Schweizer Franken. Offenbar gibt es einige Interessent*innen.
Guru füllt die Hotelbetten
Von Beckenried über Emmetten hoch nach Seelisberg gibt es weniger Kurven, als ich in Erinnerung habe. «Hey Emmetten – Du bist GIGA!», schreit mich ein gelbes Plakat von der Böschung her an. Am Rand steigt der Schnee, der Nebel drängt sich schwer an den Berg. Das Dorf schaut etwas trostlos aus dem Nebel, an einem klaren Tag aber bietet es dramatisch kitschige Aussichten.
Das Grand Hotel Sonnenberg an der Dorfstrasse ist ein Bau, dessen Glanztage der Vergangenheit angehören. Ein ansehnlicher Riss zieht sich über die Decke des Südbalkons, Verputz blättert ab, die Klingel aus Plastik ist zerbrochen. Investiert wird wohl schon eine Weile nicht mehr. Das war nicht immer so. In den 70er-Jahren entdeckte die Yogi-Bewegung Seelisberg und investierte grosszügig in die marode Liegenschaft.
Das Grand Hotel in Seelisberg hat schon sonnigere Tage erlebt.
Plötzlich diente das Urner Dorf über dem Rütli als Hauptsitz einer globalen Bewegung mit Millionen Anhänger*innen. Zwischen 1972 und 1984 empfing Guru Maharishi hier Geistliche, Politikerinnen und Botschafter, Wissenschaftlerinnen und Nobelpreisträger. Tausende kamen zu Besuch, internationale Konferenzen und Symposien wurden abgehalten, es gab einen Fahrzeugpark und touristische Programme zur Bespassung hochrangiger Gäste und ihrer Entourage. Bald waren sämtliche Seelisberger Hotels mit Anhänger*innen der Bewegung gefüllt.
Beatles als Werbeträger
Doch woher kam die Begeisterung von Menschen aus aller Welt für Guru Maharishi und seine Lehren? Es war wegen der Transzendentalen Meditation, kurz TM. Sie wurde 1957 von Maharishi als «geistige Erneuerungsbewegung» gegründet und versprach ihren Mitgliedern mehr Frieden und Gesundheit. Doch ein viel grösseres Versprechen brachte der Bewegung weltweite Berühmtheit. Maharishi behauptete, dass es dem Menschen möglich sei, durch meditative Übungen schweben und sogar fliegen zu können.
Seelisberg wurde zum Schauplatz solcher Verkündungen. 1975 wurde auf dem Vierwaldstättersee gar das weltweite «Zeitalter der Erleuchtung» ausgerufen. Das SRF berichtete, mehr Häuser wurden durch die Bewegung aufgekauft, der Dorfladen übernommen, die Einheimischen befürchteten den «Ausverkauf der Heimat» und wurden gegenüber Maharishi und seiner Anhängerschaft immer skeptischer. Doch international gewann die Bewegung an Popularität. Unter anderem durch die Begegnungen von Maharishi mit den Beatles oder den Beach Boys. Die Bewegung hatte Zulauf, das Geld floss und bald profitierte auch Seelisberg durch Steuern und Kurtaxen genug, damit sich die Bevölkerung mit den meditierenden Fremden anfreundete.
Ein Stanser bereist die Welt
Inzwischen ist in Seelisberg der Hype um Maharishi abgeflacht. Der Grossteil der Anhängerschaft hat den Ort verlassen. Nur wenige sind im Grand Hotel geblieben: Eine paar Lehrer und Therapeutinnen, sowie rund 30 Frauen, die hier in einer Art Klostergemeinschaft leben.
Und dann ist da Otto Odermatt, Sohn des «LimenadeFelix» aus der Schmiedgasse 47 aus Stans. Seit er in den 70er-Jahren auf Maharishi aufmerksam wurde, blieb er seinen Lehren treu. Zusammen mit seiner Frau Maria zog Otti 1982 für ein Jahr nach Seelisberg, um die Meditation zu lernen. Doch sie blieben und begannen, selbst TM-Lehrer*innen auszubilden – reisten damit in die USA, nach Japan oder Thailand.
Otto Odermatt ist der festen Überzeugung, dass der Mensch fliegen kann.
In Seelisberg wurde Otti Touristenführer für hohe Gäste aus dem Ausland. Mit indischen Heiligen fuhr er zum Bruder Klaus, mit Uno-Botschaftern verbrachte er die Tage auf dem Schiff. Heute, fast 40 Jahre später, leiten Otti und Maria das Zentrum in Seelisberg. Die Bewegung ist zum Zuhause geworden, doch daneben ist der ehemalige Primarschullehrer noch immer als Herausgeber und Verleger von Kunstbänden und Schweizer Sagenbüchern aktiv.
Meditation gegen Kriminalität
Inzwischen ist Otti 74 Jahre alt. In schweren Stiefel und dunklem Blazer mit Urnerstier-Anstecknadel am Revers führt er mich durch einen Ausstellungsraum. Er lässt mich im Eingangsbereich die «Glocke der Unbesiegbarkeit» läuten und erzählt vom Ziel der TM-Bewegung: Weltfrieden.
Otti ist davon überzeugt, dass die Bewegung zu diesem beiträgt. Er zitiert «Beweise» des «Maharishi-Effekts». Er spricht davon, wie 7000 gemeinsam meditierende Menschen in den USA 1984 zu einem weltweiten Rückgang von Kriminalität geführt hätten. Etwas abgehoben wirkt die Ausstellung, aufgebaut auf «Maharishis World Plan», und bestätigt damit ein Bild der Bewegung, das recht viele Nidwaldner*innen in den 90er-Jahren teilten.
Ich erzähle Otti von den Witzen aus meiner Schulzeit. Von Yogis im Sturzflug überm Rütli. Otti lächelt. Und dann sagt er, dass Menschen tatsächlich fliegen können. Schweben und dann irgendwann Fliegen. Unsere Gesellschaft und die Einschränkung ihres Geistes jedoch lasse aktuell nicht mehr zu, als das Hüpfen wie ein Frosch. «Aber auch das macht Spass», sagt Otti und lacht.
In der Flughalle
Mit schnellem Schritt führt Otti durch die verwinkelten Gänge des Grand Hotels. Kurz ins Büro des Ehepaars Odermatt, ein chaotisches Durcheinander und Miteinander von Kunst und Leben, von Transzendentaler Meditation und verstaubtem Hometrainer.
In der Flughalle üben sich Maharashis Anhängern im Abheben – nach Geschlechtern getrennt.
Als ich das Fliegen schon beinahe abgehakt habe, fällt mir das Schild an einer Holztür auf. «Flughalle – Flying Hall – A1 A2». Otti erlaubt mir, einzutreten. Hinter der Tür führt eine schmale Treppe nach oben. Otti geht im Dunkeln voraus und knipst nach ein paar Schritten den Lichtschalter an. Oben angekommen erwarten uns zwei grosse Räume, Otti nennt sie Flughallen. Eine für Frauen, eine für Männer. Sie sind fast gänzlich mit orangebezogenen Matratzen gefüllt. An der Wand hängt ein goldgerahmtes Bild Maharishis.
Guru Maharashi hat die entsprechenden Übungen, das Fliegen, hier stets unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen. Und auch jetzt erhalte ich keine Vorführung.
Einer bleibt
Wir haben uns im grossen Konferenzsaal in zwei der über hundert goldenen Sessel gesetzt. Otti erzählt Anekdoten – von glatzköpfigen Nonnen, von leuchtenden Swamis und cola-trinkenden Bischöfen. Oft habe man die TM-Bewegung als Sekte oder Religion bezeichnet. Dabei gehe es bloss um die Wiederbelebung tausendjähriger indischer Traditionen, erklärt er. Muslime, Buddhisten, Hindus, Atheisten und Katholiken wie er seien Teil der Bewegung. Die Hauptsache seien die morgendlichen und abendlichen 20 Minuten Meditation. Woran jemand glaubt, wie sie lebt, was er ist und isst, sei nicht wichtig.
Otto Odermatt denkt nicht daran, Seelisberg zu verlassen.
Mittlerweile ist uns im grossen Saal kalt geworden. Wir ziehen weiter, setzen uns im «Pink Studio» auf rosa Samtsofas, unsere Schuhe bleiben draussen im Gang. Werden er und Maria der Bewegung folgen, will ich wissen – nach Holland, in die USA oder nach Thailand ziehen? Er bleibe hier, wo man ihn verstehe, sagt Otti und verfällt dabei demonstrativ in einen starken Nidwaldnerdialekt. Trotzdem ist sein Glaube an eine bessere Zukunft dank TM ungebrochen. Die Bewegung sei noch immer weltweit im Aufbau.
Abendlicher Abflug
Seit Maharishi Seelisberg verlassen hat, ist das Leben in der Hotelanlage Sonnenberg ruhiger geworden. Gerade findet zwar ein Kurs im Pulslesen statt. Der Laden drüben im ehemaligen Hotel Waldhaus ist geöffnet und im Pilgerheim gleich neben dem Grand Hotel sind Kurgäste einquartiert. Mehrmals im Monat finden Workshops statt, und auch ein Festival für klassische, indische Musik ist Teil des Hauses.
Und doch wirkt es ein bisschen so, als habe man Seelisberg vergessen. Ein leichter Grauschleier liegt über dem Prunk der 70er-Jahre und den künstlichen Blumen. Der goldene und rosa Samt mit eingebranntem Logo «World Government of the Age of Enlightenment» ist verblichen. In der Bewegung wird seit einer Weile vorzugsweise neue Architektur nach vedischen Massstäben gebaut, Schluss mit den alten Häusern.
Als wir uns draussen vor dem Haus verabschieden, ist es dunkel geworden.
Ich gehe jetzt fliegen, sagt Otti.
Wir lachen beide und ich weiss, er meint es ernst.