Gefahr in Afghanistan
Der Luzerner Sohail Khan reiste nach Afghanistan, um den Menschen vor Ort zu helfen, die unter dem Taliban-Regime leiden. Das hätte ihn sein Leben kosten können.
Lisa Kwasny — 07/18/22, 06:04 AM
Sohail Khan reiste im April nach Afghanistan. (Fotos: zvg)
Sohail Khan wusste, dass die Reise nach Afghanistan gefährlich ist. «Ich musste mich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass die Taliban mich töten könnten.» Nachdem sich vor einem Jahr US-amerikanische und europäische Truppen zurückgezogen haben, steht das Land nun wieder unter der Gewalt der Taliban. Wieso also gab er sich solchen Gefahren aus, um nach acht Jahren wieder in seine Heimat zu reisen?
Sohail ist in der Luzerner Kulturszene ein bekannter Aktivposten. Manchmal fragt man sich, woher er seine Energie nimmt. Früher traf man ihn im Uferlos an der Kasse, wo er gefühlt alle kannte und stets gute Laune verbreitete. Heute arbeitet er im Neubad.
Und dann ist da noch diese ausgeprägte Hilfsbereitschaft. So hat er die NGO «Education for Integration» aufgebaut, welche die Integration von Menschen mit Migrationserfahrung fördert. Dazu führt er regelmässig die Partyreihe «Bong da City» in verschiedenen Clubs in Luzern und anderen Schweizer Städten durch, um Geld für sein Hilfswerk zu sammeln.
In seiner Heimat hilft sein Hilfswerk den Menschen vor Ort.
Wie ernst Sohail dieses soziale Engagement ist, zeigte sich nun im April. Von Luzern reiste er über Kabul nach Kandahar. Seit die Taliban in Afghanistan an der Macht sind, hat «Education for Integration» den Wirkungsbereich ausgeweitet. Dank einem Netz aus Freiwilligen kann die Organisation in Afghanistan Nahrung und Medizin verteilen, die mit Spenden aus der Schweiz finanziert werden. Sohail wollte nun vor Ort selbst sehen, wie der Bevölkerung am besten geholfen werden kann.
«Frauen sitzen weinend mit kleinen Babys auf der Strasse und betteln für Brot.»
Sohail Khan
Und da war sie wieder. Die Gefahr durch die Taliban. Diese sind in Afghanistan überall präsent. «Sie sind in jeder Strasse, in jedem Dorf. Wenn du mit dem Auto zehn Minuten fährst, kommst du in eine Kontrolle. Wenn du keinen Bart trägst, werden die Fragen härter. Und wenn du etwas falsch machst, töten sie dich, ohne Warnung.»
Hat das Sohail nicht Angst gemacht? Natürlich, sagt er. Alle in Afghanistan hätten Angst. Aber als er den Taliban gegenüberstand, hatte er nicht nur Angst, sondern er war auch wütend. «Auf der Strasse sitzen Frauen mit kleinen Babys, die haben trotz der Hitze keine Schuhe an. Sie sitzen weinend auf der Strasse und betteln für Brot. Das ist am traurigsten.»
Gesammelte Schuhe wurden an Kinder verteilt.
Solche Begegnungen hätten ihn die Taliban vergessen lassen: «Das wichtigste war, den Menschen zu helfen. Wir sind herumgefahren und haben diejenigen besucht, denen wir schon geholfen haben, um zu sehen, wie es ihnen geht. Wir haben Essen und Medizin verteilt und versucht herauszufinden, was die Menschen brauchen.»
«Die Taliban wollen nur Schulen für Jungen erlauben.»
Sohail Khan
Dadurch hätten sie auch gesehen, dass einmalige Essensspenden zwar kurzzeitig helfen, es aber langfristige Lösungen braucht. «Es gibt so viele Probleme. Manchmal wissen wir nicht, wo anfangen», sagt Sohail und seufzt etwas verzweifelt. «Eigentlich wollten wir eine Schule bauen. Wir haben dafür mit den Taliban gesprochen, aber die wollen nur Schulen für Jungen erlauben. Das möchten wir nicht. Wir warten jetzt ab, ob sie den Mädchen irgendwann wieder erlauben, zur Schule zu gehen.»
In der Zwischenzeit hat er mit seinem Hilfswerk ein Projekt mit Nähmaschinen gestartet. «Wir haben mit den Frauen in den Dörfern gesprochen und entschieden, dass wir für sie Arbeit organisieren wollen», erzählt Sohail. Die NGO will erstmal 25 Nähmaschinen kaufen, damit Frauen, deren Männer krank oder verstorben sind, selbst Geld verdienen können. Da diese Frauen fast keiner Arbeit nachgehen dürfen, sind sie am meisten von Hunger betroffen.
Auch essen wurde an die lokale Bevölkerung abgegeben.
Sohails Reise nach Afghanistan diente aber nicht nur der NGO. Denn nach acht Jahren konnte er endlich wieder seine Mutter sehen. Auf die Frage, wie diese Begegnung für ihn war, verliert Sohail für einen kurzen Moment die professionelle Distanz, die das Gespräch bis anhin begleitet hat. Es ist, als würde sich eine kurze Spannung entladen. «Das war für mich ein Schock», sagt er, «als ich da war, musste ich mich die ganze Zeit selbst kneifen, um mich zu versichern, dass ich nicht träume».
«Meine Mutter wusste, dass es für mich gefährlich war, aber sie liess mich gehen.»
Sohail Khan
Seine Mutter wusste, dass er kommt und habe vor Aufregung zwei Tage lang nicht geschlafen. Als er dann mit der NGO aufbrach, um an verschiedenen Orten Hilfe zu leisten, habe sie ihn sehr unterstützt. «Meine Mutter wusste, dass es für mich gefährlich war, aber sie liess mich gehen», erinnert sich Sohail. Seine Hilfsbereitschaft hat er von ihr: «Sie sagt immer, wenn du nichts für andere Menschen tust, ist dein Leben nichts wert.»
Sohail Khan bei der Essenszubereitung.
Die Reise nach Afghanistan habe ihn persönlich sehr getroffen, sagt er. Als er zurück in die Schweiz kam, hatte er einen Kulturschock: «Die Leute hier haben Rechte, sie haben Entscheidungsfreiheit, Meinungsfreiheit und politisches Mitbestimmungsrecht.» Die Eindrück, die er gesammelt hat, haben seine eigene Lebensweise verändert: «Ich spare jetzt etwa die Hälfte meines Geldes, das ich sonst für Essen ausgegeben hätte und spende es. Ich lebe immer noch gut und kann damit vielen Menschen helfen.»
Und auch innerhalb der NGO sei seit der Reise viel passiert: «Wir haben jetzt viel mehr Energie, Geld zu sammeln», erzählt er. Am letzten Bong-da-City-Anlass in der Baselstrasse hätten 11 DJs gratis gespielt. «Dadurch kamen etwa 5000 Franken zusammen. Weil wir alle gratis arbeiten, fliesst das ganze Geld direkt nach Afghanistan zu den Menschen.»
Zudem arbeitet das Hilfswerk mit Luzerner Kulturinstitutionen wie dem B-Sides zusammen: «Man konnte am Ende vom B-Sides das Restgeld seines Cashless-Kontos an ‘Education for Integration’ spenden. Zudem kochen wir für das B-Sides Teamessen. Solche Zusammenarbeit ist sehr toll.»
Um Arbeit zu schaffen, wurden Nähmaschinen organisiert.
Sohail würde aber gerne noch mehr Geld sammeln, zum Beispiel mithilfe von Stiftungen oder Firmen. Die NGO arbeitet nun auf Hochtouren, um noch mehr Spenden zu generieren, denn die Not ist allgegenwärtig. «Die internationale Community hat eigentlich sehr viel Geld gespendet, aber in Afghanistan sieht man nichts von diesem Geld. Die Korruption ist leider sehr gross», fasst Sohail die Lage resigniert zusammen.
Doch er findet auch, dass noch mehr Hilfe möglich sein sollte. «Ich verstehe nicht, wieso es so einfach ist, in der Ukraine so schnell Hilfe bereitzustellen und in Afghanistan nicht.» Die Menschen dort seien einfach vergessen worden.
«Zuerst kommt das Essen, dann die Revolution.»
Sohail Khan
Die Zukunft von Afghanistan liegt für Sohail im Dunkeln. «Wer dort lebt, muss entweder mit den Taliban zusammenarbeiten oder fliehen. Oft entscheiden sich die Menschen für die Flucht.» Die Bevölkerung habe Angst und sie fühle sich vergessen. «Sie haben gedacht, dass Europa und Amerika eine Verbesserung der Situation bringen würde. Diese Hoffnung ist nun weg. Die meisten Menschen in Afghanistan glauben, dass sie der Westen an die Taliban verkauft habe», sagt Sohail. «Die Bevölkerung hofft nun, dass die Taliban irgendwann moderater werden.»
Proteste, wie sie am Anfang der Machtübernahme der Taliban in den Medien gezeigt wurden, seien abgeflacht. Die Menschen hätten Angst und Hunger. «Zuerst kommt das Essen, dann die Revolution», sagt Sohail und zuckt mit den Schultern.
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