Bildbetrachtung
Normal ist das ja nicht, ohne Absicht und Funktion auf einem Sammelplatz herumzustehen, wenn es nirgends brennt, nirgends überflutet, nirgends nach Gas riecht.
Christov Rolla — 04/23/21, 04:16 AM
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Vom Sog her ist das eines der schlimmsten Schilder, die ich kenne. Und ich kenne wahrlich viele Schilder! Aber einen Sog wie dieses übt sonst keines auf mich aus.
Seit ich mit Frau Doktor Hofstetter telefoniert habe, versuche ich, die Passage zu meiden, in der dieses Schild hängt. Dadurch wird mein Arbeitsweg zwar länger, und ich kann nicht mehr zu meinem gewohnten Kiosk. Ich muss jetzt bis zum Kiosk am Dufourplatz, um meine Gauloises und die Gazzetta zu kaufen. Aber übers Ganze gesehen ist mein Leben wesentlich besser geworden, seit ich andere Wege gehe.
Einmal pro Monat muss ich aber nach wie vor durch diese Passage, weil der Hauseingang von Steffi und Pänggu mitten in dieser Passage liegt. Und das Schild hängt direkt gegenüber der Eingangstüre. Und dann muss ich mich immer wahnsinnig zusammennehmen, damit ich das Schild nicht anschaue. Denn wenn ich das Schild anschaue, zieht es mich unweigerlich zum Sammelplatz. Und ich will ja gar nicht zum Sammelplatz, sondern zu Pänggu und Steffi! Aber der Sog des Schildes ist meistens grösser.
Ich nenne es nicht gerne Zwang. Frau Doktor Hofstetter hat bei unserem Telefonat gemeint, es sei egal, wie ich es nenne, solange ich mich der Sache stelle. Darum nenne ich es jetzt Sog. So sitzt das Problem nicht so fest in mir selber drin, sondern das Schild ist schuld.
Schilder und ich, das ist eine lange Geschichte. Seit ich denken kann, habe ich mich von Schildern angezogen gefühlt. Also, jetzt nicht von den Schildern selber. Es ist nicht das Blech, das mich anzieht, oder die Farben. Ich fühle mich einfach sagenhaft angesprochen von den Aussagen, den Befehlen, den Verboten, den Hinweisen.
Das ist ein bisschen seltsam. Denn eigentlich bin ich überhaupt nicht unterwürfig. In der RS habe ich zum Beispiel mehr als einmal scharfen Arrest bekommen, weil ich ungebührlich aufgemuckt habe. Polizisten haben Respekt vor mir, und niemand schreibt schärfere Leserbriefe und Kommentare als ich. Mit menschlichen Autoritäten habe ich also überhaupt kein Problem, eher umgekehrt: Über kurz oder lang kriegen sie Probleme mit mir.
Aber eben, Schilder. Da sind Autoritätsprobleme und Problemautoritäten wie ausgelöscht, und ich füge mich, unterwerfe mich, halte mich dran. Und zwar gerne! Das glaubt mir Frau Doktor Hofstetter zwar nicht, aber es ist wirklich ein schönes Gefühl. Und abgesehen vom Sammelplatzschild beeinträchtigt der Schildersog mein Leben kaum. Es ist halt einfach ein wenig umständlich.
Wenn zum Beispiel an einem Garagentor BITTE AUSFAHRT FREIHALTEN steht, dann halte ich mich selbstverständlich daran. Einer solchen Blechtafel sind oftmals Pein und Mühseligkeit vorangegangen. Das will und soll respektiert sein! Aber wenn ich einfach am Garagentor vorbeiginge, dann wäre es, als hätte ich das Schild nicht gesehen, oder, was ich noch schlimmer fände, ignoriert. Etwas in mir will zeigen, dass ich das Schild zur Kenntnis genommen und mich an die Anweisung gehalten habe. Und darum kann ich, wenn ich irgendwo BITTE AUSFAHRT FREIHALTEN sehe, gar nicht anders, als mich eine Minute lang absichtlich vor das Garagentor zu stellen, daraufhin das Schild noch einmal zu lesen und schliesslich die Ausfahrt freizugeben, indem ich vorbildlich und verhaltenskorrekt vier Schritte weitergehe. Das ist ein wahnsinnig befriedigendes Gefühl.
KEIN TRINKWASSER ist auch so ein Fall. Nie im Leben würde ich aus einem Brunnen trinken! Aber wenn so ein Schild angebracht ist, muss ich so tun, als wolle ich trinken, erblicke dann gespielt-überrascht das Schild – und sehe betont musterbürgerlich vom Trinken ab. Manchmal klopfe ich mir anschliessend selber ein bisschen auf die Schulter. Aber nur, wenn niemand in der Nähe ist.
BAUSTELLE BETRETEN VERBOTEN gibt es sehr viele in meinem Quartier, es herrscht ein bisschen ein Bauboom, will mir scheinen. Da habe ich mir abgewöhnt, ein grosses Tamtam zu machen, sonst käme ich ja gar nicht mehr vom Fleck bei meinen Runden. In Absprache mit Frau Doktor Hofstetter rufe ich bei BAUSTELLE BETRETEN VERBOTEN jetzt nur noch kurz «Aye, aye, Sir!» oder «Nicht betreten, verstanden!» und gehe dienstfertig weiter.
Aber nicht alle Schilder kann ich so elegant parieren. Schlimm war für mich lange Zeit das kleine, an den Türen mancher Geschäfte angebrachte ICH MUSS DRAUSSEN BLEIBEN mit dem durchgestrichenen Hundepiktogramm. Dem Sog, einen Hund kaufen zu gehen, um diesen vor Betreten des Geschäfts an einem dieser gezwirbelten Metallteile in der Hauswand neben der Ladentür anbinden zu können, konnte ich kaum widerstehen. Auch dann nicht, wenn ich in dem Geschäft gar nichts zu besorgen hatte.
Eine Weile lang trug ich deswegen auf Anraten von Frau Doktor Hofstetter einen kleinen Plüschhund in der inneren Jackentasche. Das hat den Hundekaufdrang gemildert. Aber wenn ich dann einmal wirklich in ein Geschäft mit ICH-MUSS-DRAUSSEN-BLEIBEN-Schild musste, war es die Hölle.
Und am allerschlimmsten ist eben ZUM SAMMELPLATZ. Wie oft schon stand ich nicht in meinem Büro oder am Kiosk oder bei Pänggu und Steffi in der Stube, sondern ungewollt auf dem Sammelplatz! Und niemand war dort und nichts passierte und besonders schön ist es dort auch nicht. Eine Ödnis zwischen Wohnblöcken. Vielleicht ein paar spielende Kinder. Aber wenn du als Mann von Mitte Zwanzig zu lange alleine auf einem Platz herumstehst, und in der Nähe spielen Kinder, dann kommen die Anwohnerinnen auf Gedanken, dann schiessen die Mutmassungen in alle Richtungen. Dealer, Kinderfresser, Adoleszenzverweigerer – solche Sachen. Und ich kann das verstehen! Normal ist das ja nicht, ohne Regung und Absicht und Funktion auf einem Sammelplatz herumzustehen, wenn es nirgends brennt, nirgends überflutet, nirgends nach Gas riecht.
Ich wäre froh, wenn Pänggu und Steffi umziehen würden.
# Christov Rolla ist eigentlich Musiker. Für diese Kolumne aber versetzt er sich in Menschen und an Orte. Manche bezeichnen dies als Rollenprosa, andere als redselige, ausschweifende und komplett herbeifabulierte Selbstgespräche. Wir nennen es: Bildbetrachtung. Mit freundlicher Unterstützung der Kulturförderung des Kantons Luzern.