Projekt Nachtleben
Was taugt eigentlich das Nachtleben in den Urkantonen? Mit dieser Frage im Gepäck hat sich unser Autor durch diverse Bars zwischen Stans und Altdorf getrunken.
Jan Rucki — 11/30/22, 01:22 PM
Die Urschweiz hat viele Beizen und in jeder lässt sich sehr gut Bier trinken. So auch im «Formula» in Sarnen. (Fotos: Jan Rucki)
Ausgang in der Urschweiz? Sofort stiegen in mir die Klischees auf, die «wir Städter:innen» gegenüber denen von «hinde füre» haben. Ich habe einige Freund:innen aus Ob- und Nidwalden, hatte Klassenkolleg:innen aus Uri und Schwyz. Doch sie alle habe ich – wenn denn – immer in Luzern getroffen. Beim Bier in der Stadt erzählten sie mir von ihren Chilbis und Homeparties auf dem Dorf. Ein Wochenend-Halligalli, das ich mir nur ansatzweise vorstellen konnte.
Mein Bild von Ausgangsnächten auf dem Land war selten gut. Nicht zuletzt wegen den S-Bahn-Gästen, also der Landjugend, die es bei ihrem Stadtbesuch nicht viel weiter als bis in die Münder des Teufels an den Ufern des Luzerner Bahnhofs schaffen. Es ist jener Teil des Ausgangspublikums, das auf Vollsuff programmiert ist und diesen an Unorten wie dem «Schwarzen Schaf» oder dem «Roadhouse» einfordert.
Dieser Blick auf die Ausgangskultur der Jungen aus der «Ländere» mag verzogen und vielleicht sogar etwas unfair sein. Doch wie viel ist an meinen Vorurteilen dran? Um das zu überprüfen, habe ich mich auf eine Reise begeben, die mich in die Tiefen der Innerschweiz geführt hat. Ich habe Orte besucht, die dem städtischen Leben unbekannt sind und wo sich die Dorfbewohner:innen ihre Nächte um die Ohren schlagen.
Erstes Etappenziel: Stans.
Wo die Jungen das Biersaufen lernen
Die «Jlgebar» gehört seit 35 Jahren zum Inventar der Nidwaldner Pub- und Barszene. Seit 35 Jahren steht dort Wirtin Luzia von Holzen hinter der Theke. Die gepflegte 60-Jährige macht sich einen Espresso, stellt mir und meiner Begleitung je einen halben Liter Moretti auf den Tisch.
Die Polizei bleibt draussen: In Luzia von Holzens (rechts) «Jlgebar» werden die Dinge untereinander geregelt.
Es ist Mittwochabend und die meisten Tische stehen leer. «Die Gäste kommen bei uns jedoch hauptsächlich am Wochenende vorbei», sagt die Wirtin. Dann hat sie quasi einen Bildungsauftrag: «Bei mir lernen die Jungen Biertrinken», erklärt uns von Holzen stolz.
Hierher kommen junge Menschen, die ihre ersten Ausgänge erleben, sich ausprobieren und den Ort zu schätzen wissen, der ihnen von Holzen und ihr Team bietet. «Unser Publikum ist immer jung geblieben, obwohl es das Lokal schon so lange gibt.»
«Ich kenne alle meine Gäste und die wissen, wie man sich hier benehmen muss.»
Luzia von Holzen, Wirtin «Jlgebar»
Mein Bild von den primitiven Kneipen der «Ländler:innen» beginnt zu schwinden. Dennoch bleibe ich misstrauisch. Junge Menschen mit wenig Biererfahrung? Das kann doch bloss für Ärger sorgen. Deshalb will ich von der Wirtin wissen, wie oft sie pro Wochenende die Polizei ruft. In ihrer Amtszeit sei das noch nie vorgekommen. «Wir regeln das hier selbst. Ich kenne alle meine Gäste und die wissen, wie man sich hier benehmen muss.»
Bei den Bier-Senioren
Die «Jlge» ist ein Ort mit Tradition und Stil. Zumindest im Vergleich mit unserem nächsten Ziel. Etwa eine Stunde und ein Zugbier später erreichen wir Sarnen. Im Obwaldner Hauptort stolpern wir über einige Strassen und landen im langsam angetrunkenen Zustand in der «Formula»-Bar.
Beim sechsten Schnaps mit den Sarner Senioren.
Kaum angekommen, geraten wir in die Fittiche der lokalen Bier-Senioren, die sich zum abendlichen Umtrunk im «Formi» versammelt haben. Am Tresen sitzen zehn weisse, alte Männer. Was uns zuerst abschreckte, entpuppt sich wenig später als durchaus amüsant. Mit lauter Schnäpsen, Stangen und Schnupftabakladungen fühlen wir uns auf einmal auf merkwürdige Art und Weise wohl in diesem Laden.
Uns werden Geschichten erzählt von Jugendsünden, die mit DJ Bobo erlebt wurden, den Schnäpsen, die in Obwalden halluzinogen wirken, dem Dorf, das so einmalig sei. Für einen kurzen Moment driften wir mit ab, lassen uns treiben. Bei einer Zigaretten-Verschnaufspause vor der Tür probieren wir, Vergleiche zu unserem Leben in Luzern zu ziehen. Auch bei uns gibt es Bars, an denen jeden Abend aufs Neue das Elend des Älterwerdens getränkt wird, wo sich der eine Abend genauso anfühlt wie jeder andere.
Von den Jungen noch immer keine Spur
Zurück an der Theke sind wir auf die Hilfe unserer «Fast-Freunde» angewiesen. Schliesslich soll das «Formula» noch längst nicht Endstation sein, also fragen wir nach weiteren Bars in der Region – wenn möglich mit jüngerem Klientel. «Die Jungen? Sie kommen am Wochenende auch hierher!», erklärt uns ein bärtiger Mann, der wohl auch unter den Bier-Senioren zum älteren Semester zählt. Er spricht von Sportvereinen und «sonstigem jungen Gemüse», das dann hier mit ihnen feiert. «Darauf freuen wir uns immer. Und solange warten wir hier.»
Hat seine Gäste und auch sich selbst gut bedient: Der Barkeeper der Fomula-Bar.
Wir lassen die Aussage unkommentiert und verlassen nach zwei Stunden das Lokal. Zu einem Anschlusstermin können uns die Bier-Senioren nicht verhelfen. Obwohl unsere Zeit hier unterhaltsam und erkenntnisreich war, wirkt das Leben der alten Männer doch etwas einengend. Schon zu lange sind sie im «Formula» gestrandet. Deshalb findet unsere Expedition in die Urschweiz hier ein zwischenzeitliches Ende. Wir erwischen gerade noch den letzten Bummler von Sarnen nach Luzern.
Neuer Abend, neuer Mut
Am Freitagabend wird die Fährte wieder aufgenommen. Nun führt sie uns an das andere Ende des Vierwaldstättersees. Mit Tell-Bier und Tell-Bus bewegen wir uns stilecht in Richtung Tell-Denkmal. Das Ziel: Das «Costa Rica». Ein Club, der am Wochenende seine Türen öffnet. Haben wir diesmal mehr Glück im Hinblick auf das Anfreunden mit Jugendlichen?
Unser Weg führt uns am Telldenkmal vorbei, wo zwei Jugendliche unter schützendem Symbolbild unserer Eidgenossenschaft einen Spliff rauchen und RAF Camora via Handy-Boxen hören. Unser Wegbier ist ausgeschlürft, wir bleiben in der Bar «Kra» hängen.
«Ihr seid nicht von hier?»
Es steht wieder Bier vor uns auf dem Tisch. Die Bar ist gefüllt, die Menschen machen einen verblüffend urbanen Eindruck. Und dennoch scheinen wir als Städter aufzufallen. Eine junge Frau kommt auf uns zu und fragt, ob sie sich zu uns gesellen darf. «Ihr seid aber nicht von hier, oder?», fragt sie uns.
Das Kra ist sowas wie das Kaffee Kind von Altdorf. Hier sitzen sie immer, die Coolen.
Etwas erschrocken antworten wir mit Nein und fühlen uns zu einer Erklärung gezwungen, was um alles in der Welt uns an einem Freitagabend nach Altdorf verschlägt. Und schon tut sich der Stadt-Land-Graben vor uns auf. Das, obwohl wir dieses Thema nicht von Beginn weg ausbreiten wollten.
Familienplan statt Ekstase
Die Gasse vor der Bar ist überraschend belebt. Mit Zigarette und dem nächsten Bier in der Hand sprechen wir vor dem
«Kra» mit einer 21-jährigen Frau aus dem Nachbarort Schattdorf. Wie schlägt sie sich die Nächte um die Ohren? «Hier läuft absolut nichts», sagt sie uns. Natürlich bis auf einige Chilbis und einen Techno-Daydance im Sommer.
Deshalb wird ausgewichen. «Ich fahre immer mal wieder nach Luzern, um dort in den Clubs zu Techno zu tanzen.» Übernachtet wird dann im Auto auf dem Parkplatz. Das komme mittlerweile aber immer seltener vor. Breitet sich in Uri also bereits mit Anfang 20 eine Ausgangsmüdigkeit aus? Zumindest die Schilderungen der jungen Frau lassen das vermuten. «Vielen ist das zu unbequem geworden.»
«Doof nur, dass mein Vater Polizist ist und mir in unserem eigenen Garten in Uniform erklären musste, wie ich mich bei uns zuhause zu verhalten habe.»
21-Jährige über eine Homeparty
Zudem hätten viele von ihnen bereits andere Bedürfnisse. «Sie wollen mit ihren Partnern oder Partnerinnen die Abende verbringen, oder gründen schon bald eine eigene Familie.» Wir schauen die junge Frau etwas verdutzt an.
Immerhin bleiben die Erinnerungen an die Vergangenheit. Die junge Frau erzählt uns von einer Party, die sie bei ihr zuhause geschmissen hat, als ihre Eltern weg waren. Es musste laut gewesen sein. Denn der Nachbar rief die Polizei an. «Doof nur, dass mein Vater Polizist ist und mir in unserem eigenen Garten in Uniform erklären musste, wie ich mich bei uns zuhause zu verhalten habe.» Es war die letzte Party in ihrem Haus. Wir lachen alle. Wir müssen los. Schwyz ruft.
Schwyz bleibt ein Geheimnis
Am Bahnhof angekommen, folgt eine böse Überraschung. Zugausfall. Es war die letzte Verbindung, die uns die Seeumrundung ermöglicht hätte. Zeitgleich fährt der letzte Tell-Bus in Richtung Luzern. Mit einer Lichthupe zwinkert uns der Chauffeur zu, fragt uns, ob wir denn mitkommen möchten «oder wirklich noch länger hierbleiben wollen?».
Unsere Vernunft obsiegt. Wir wollen die Chance nicht verpassen und steigen zu. Mit einem unterhaltsamen Quatsch mit Karl dem Chauffeur sind wir im Nu zurück in Luzern. Der Preis: Schwyz bleibt ein Geheimnis.
Wo schmeckt das Bier besser?
Wir setzen uns in Luzern in die Kneipe unserer Wahl, bestellen eine Stange und sinnieren über unsere Erfahrungen. Wo gefällt es uns besser? In der Stadt, auf dem Land? Ist es denn so anders da hinten? Wo sind die Menschen offener? Welche Kultur ist aufgeschlossener? Vor dem Seelisberg oder hinter dem Seelisberg? Am Sarnersee oder am Luzerner Seebecken? Am Fusse des Stanserhorns oder dem Pilatus angeschmiegt?
Einige Fragen können wir schnell beantworten, gewisse Fragen wurden mit den Erkenntnissen, die wir im Verlaufe der beiden Abende gewinnen konnten, schwieriger zu erwidern. Die Reise durch die Urschweiz wird uns in bester Erinnerung bleiben. Dennoch sind wir froh, an einem Ort zu leben, an dem uns die ganze Bandbreite des Angebots einer Provinzstadt zur Verfügung steht. Es bleibt nun mal eine Frage des Blickwinkels, der Lebenseinstellung und des Geschmacks. Und apropos Geschmack: Das Bier schmeckte an jenen Abenden in allen Bars genau gleich gut.