Bildbetrachtung
Du hast oft gesagt, dass es dir lieber wäre, ich würde wieder einen finden, als den Rest meines Lebens allein zu bleiben und einem Pajass wie dir nachzutrauern.
Christov Rolla — 06/11/21, 09:06 AM
Heute bin ich zum letzten Mal hier, lieber Willy. Das tut ein bisschen weh, aber es lässt sich nicht ändern: Letzte Woche ist der Brief von der Friedhofsverwaltung gekommen, dass die Reihengräber Erwachsene Bestattungsjahr 2001 aufgehoben werden. – Also, konkret haben sie geschrieben, dass die Vertragsdauer für dein Grab abgelaufen ist. Aber das ist mir ein bisschen zu sachlich, wenn ich an dich denke und wie wir dich damals hier der Erde übergeben haben. Dann schon lieber «ausgelaufene Liegefrist» oder so. Aber ach, eigentlich ist das Hans was Heiri. Wir wissen ja beide, dass du schon lange an einem anderen Ort bist.
Das ist lustig: Am Anfang, die ersten Jahre lang, habe ich deine Gegenwart hier noch ganz fest gespürt – und dann, von einem Besuch auf den nächsten, plötzlich nicht mehr. Das war nach der Car-Reise ins Burgund, bei der ich Fredi kennen gelernt habe. Da bin ich zurückgekommen und habe dir davon erzählt. Ich habe dir ja immer alles erzählt. Und beim nächsten Mal, da war alles ein bisschen anders. Der Friedhof zwar wie immer, und dein Grab wie immer – aber eben doch mein Friedhofsgefühl und vor allem mein Grabgefühl ein ganz anderes. Da wusste ich: Jetzt ist Willy nicht mehr hier. Jetzt haben wir uns gegenseitig losgelassen.
Ich wäre wohl auch ein kleines bisschen eifersüchtig, wenn ich auf einer Wolke sässe und Besuch von dir bekäme und du nur so neue Partnerin hier und neue Partnerin dort.
Und ich wusste aber auch, dass du nicht wegen Fredi weg warst. Oder jedenfalls nicht in dem Sinn, dass du hässig auf mich oder eifersüchtig auf Fredi gewesen wärest. Darüber haben wir während deiner Krankheit ja oft gesprochen. Also, ich nicht! Ich wollte das gar nicht hören damals. Aber du hast einige Male gesagt, dass es dir lieber wäre, ich würde wieder einen finden, als den Rest meines Lebens allein zu bleiben und einem Pajass wie dir nachzutrauern. So hast du dich ausgedrückt, fast sogar noch auf dem Sterbebett. Immer mit einem Schmunzeln und einem grossen Herz für die anderen. Ja, und dann habe ich eben den Fredi gefunden. Aber ich bin immer noch zu dir gekommen, fast jeden Freitag, und habe dir erzählt und dich Sachen gefragt und dich vermisst. Einmal ist Fredi mitgekommen, damit ich ihn dir vorstellen kann, weisst du noch. Das war zwar richtig, aber für alle drei von uns auch ein bisschen komisch, und ab dann bin ich wieder alleine gekommen. Ich habe dich förmlich aufatmen gehört! Obwohl du ja gar nicht mehr «da» warst.
Aber weisst du, ich bin ich mir sicher, dass du mich trotzdem hörst. Und es wäre auch gar nicht so schlimm, wenn nicht. Und drittens rede ich lieber hier auf dem Friedhof mit dir als beim Jäten oder beim Teiggen oder beim Bügeln von Fredis Hemden. Kannst du dir das vorstellen? Jetzt ist der bald siebzig und kann immer noch nicht bügeln! Krawattenknoten macht er erstklassige, seine Schuhe pflegt er mustergültig, und er kann jedes kaputte Radio reparieren – aber beim Bügeln eines Hemds kapituliert er! Wie du seinerzeit. Hat man das im Militär nicht gelernt?
Aber Jesses, bitte entschuldige – du hast das nicht so gern, wenn ich zu viel von Fredi rede, gell. Das kann ich gut verstehen, auch wenn du mir deinen Segen gegeben hast. Ich wäre wohl auch ein kleines bisschen eifersüchtig, wenn ich auf einer Wolke sässe und Besuch von dir bekäme und du nur so neue Partnerin hier und neue Partnerin dort. Also fertig jetzt mit Fredi!
Ich weiss noch, wie lange es dauerte, bis ihr niemand mehr aus Versehen «s’Trudy» sagte
Was ist sonst so passiert?
Nicht viel, muss ich sagen. Das Interessanteste war, dass die Kübler Trudy an der Chorprobe verkündet hat, dass sie jetzt nicht mehr Trudy gerufen werden möchte, sondern Gertrud. Sie habe das Gefühl, jetzt mit sechzig, sei es langsam an der Zeit, das Mädchen in ihr beiseite zu lassen und die Gertrud zu Tage treten zu lassen. –
Also, interessant war es vor allem, weil ich nachher beim Kafi zufällig mit allen drei Trudys aus unserem Chor an einem Tisch sass: Mit dem Einholzer Trudy, mit der Imbach Trudy und eben der Kübler Gertrud. – Du hast den feinen Unterschied zwischen dem Einholzer Trudy und der Imbach Trudy jetzt sicher gleich bemerkt, gell, Willy. Du hast ja immer ein Gespür gehabt für solche sprachliche Finessen.
Weil: Die Kübler Gertrud ist nicht die erste Trudy, die ihren Namen geändert hat. Vor ein paar Jahren hat schon die Imbach Trudy gewechselt, aber nicht ganz so radikal wie die Kübler Gertrud, also nicht direkt von Trudy auf Gertrud. Sie hat nur von das Trudy auf die Trudy gewechselt, weil sie fand, Trudy sei als Rufname tipptopp, aber die Neutrifizierung störe sie. Ich konnte das seinerzeit sehr gut nachvollziehen, aber ich weiss noch, wie lange es dauerte, bis ihr niemand mehr aus Versehen «s’Trudy» sagte ...! Erschwerend kam nämlich noch dazu, dass das Einholzer Trudy die Angelegenheit mit den Worten kommentiert hatte, also, sie selber empfinde sich überhaupt nicht als Sache, und ihr sei es einerlei, ob man sie s’Trudy oder d’Trudy nenne, aber à la bonheur, das müsse jedes Trudy für sich selber entscheiden.
Jetzt kannst du dir vorstellen, was das für ein Durcheinander ausgelöst hat die ersten Monate! Weil, die Kübler Gertrud war damals ja ebenfalls noch ein Trudy. Und dass die Imbach Trudy jedes Mal streng gezischt hat, wenn jemandem versehentlich ein «s’Trudy» rausrutschte, das hat die Umstellung nicht unbedingt beschleunigt. Da wirst du ja nur noch nervöser, wenn du aus Angst vor einem Anpfiff unter Hochdruck überlegen musst, welches jetzt schon wieder das richtige Pronomen für welches Trudy ist. – Insofern wird es bei der Kübler Gertrud sicher einfacher, denn die Umstellung auf einen neuen Namen ist ja grösser als auf nur ein neues Pronomen, das merkt man sich leichter.
Jetzt bin ich einfach gespannt, was das alles mit unseren beiden Vrenis macht ... – Ich werde es dir dann berichten, lieber Wilhelm! - Neinnein, das war ein Gspässli, Willy. Ich weiss ja, du hast es immer gehasst, wenn dich jemand Wilhelm nannte.
Und für mich wirst du sowieso für immer mein Chouchou bleiben. Auch wenn ich jetzt nicht mehr hierherkommen kann. Aber ich finde schon noch ein Plätzli, wo ich weiterhin mit dir schnäderen kann. Versprochen!
# Christov Rolla ist eigentlich Musiker. Für diese Kolumne aber versetzt er sich in Menschen und an Orte. Manche bezeichnen dies als Rollenprosa, andere als redselige, ausschweifende und komplett herbeifabulierte Selbstgespräche. Wir nennen es: Bildbetrachtung. Mit freundlicher Unterstützung der Kulturförderung des Kantons Luzern.