Bildbetrachtung
Wir müssen auch mal ein wenig demütig sein. Anderen geht es viel schlimmer, die dürfen gar nie in die Beiz hinein.
Christov Rolla — 04/02/21, 04:22 AM
Waldi! Ssst! –
Waldiwotschächt? Bei Fuss! –
Waldidohäre! –
Deet chasch ned ine, Waldi. D’Tööre-n-esch pschlosse.
Ond Hönd mönd sowieso dosse bliibe!
Waldidaher!
Hast du die Fritteuse gerochen, Waldi? Die schon lang erkaltete, stumm gewordene Fritteuse mit ihrem vereinsamten Frittieröl? Wobei, nein, das kann nicht sein, das Frittieröl haben sie ja wohl hoffentlich weggeleert, wenn sie so lange zuhaben müssen. Oder hast du vielleicht den Altrauch gerochen? Oder die rückfettenden Polymere aus dem Parkettpflegemittel? Oder den hauchdünnen Film auf den Jasskarten, den ein Res haben muss, damit die Karten nicht mehr so fabrikneu glitschig sind, damit es ein gern gebrauchtes Res ist, damit man gern damit jasst?
Du hast eine gute Nase, Waldi. Du könntest wahrscheinlich sogar von diesem gottverlassenen Beizenvorplätzchen aus erschnüffeln, aus welchen Spurenelementen sich der Jasschartfilm zusammensetzt. Ein Teil Biberli, ein Teil Güggeli im Chörbli, ein Teil Aromat. Ein Teil gewöhnliches Fingerfett. Bisschen Hautpartikel auch. —
Das macht mich jetzt fast ein bisschen philosophisch, Waldi. Soweit ich weiss, jassen die Männerchörler und die Volley-Damenriege ja nie zusammen. Immer getrennt. Die Männerchörler am Dienstag und die Volleyballerinnen am Donnerstag. Aber ihre Hautpartikel mischen sich auf den Karten. Ist das nicht fast ein bisschen romantisch? Wobei für dich, Waldi, ist es sicherlich in erster Linie: interessant. Du mit deiner Hundenase. Ich beneide dich ein bisschen.
Da schau, jetzt habe ich Hunger. Stell dir vor, jetzt ein Salötli und dann das Knoblauch-Chili-Cordon-bleu. Und dann vielleicht ein Biberli! Ja siehst du, Waldi. Ich ginge auch gerne in diese Beiz hinein. Seit Wochen ginge ich gerne hinein! Geht aber jetzt halt nicht. Da müssen wir geduldig sein und tapfer.
Aber weisst du, wir müssen auch mal ein wenig demütig sein. Anderen geht es viel schlimmer, die dürfen GAR nie in die Beiz hinein. Erinnerst du dich an Werni, Waldi? Seit er trocken ist, muss er draussen bleiben. Einmal hat er es noch mit einem alkoholfreien Feldschlösschen probiert. Ich weiss nicht, ob es an der Alkoholfreiheit oder am Feldschlösschen lag, aber es hat ihn postwendend eine solche Traurigkeit ereilt, dass er beinahe ein richtiges Bier bestellt hätte. Zum Glück hat ihn Hansueli davon abhalten können. Aber seither ist Werni nie mehr in die Beiz gekommen.
Oder der Gedichteverkäufer. Der darf auch nicht mehr hinein, der hat Hausverbot bekommen. Ich war an dem Abend nicht da, aber ich habe es kommen sehen! Der fünfte Jasser ist ja per se schon nicht so beliebt. Und wenn der fünfte Jasser jetzt auch noch ständig ungefragt Gedichte aufsagt, dann ist natürlich bald fertig mit der guten Stimmung am Tisch.
Oder der Rosenverkäufer. Der hat zwar kein Hausverbot bekommen, aber Geri und Rüedu haben sinerziit so üble Sprüche über ihn gemacht, dass der Rosenverkäufer von selber nie mehr wieder gekommen ist. Wahrscheinlich hat er gar nicht verstanden, was Geri und Rüedu über ihn gesagt haben. Aber das merkst du ja trotzdem, auch wenn du die Sprache nicht so gut kannst, dass sich ein Grüppli über dich lustig macht und immer so mit einem bestimmten Blick zu dir herüberschaut, gell, Waldi. Am schlimmsten war vermutlich, dass Kathrin mitgelacht hat. Wenn ich der Rosenverkäufer gewesen wäre, mir hätte das jedenfalls weh getan.
Ob der Gedichtverkäufer und der Rosenverkäufer sich zusammengetan haben? Das fände ich jetzt noch eine schöne Vorstellung. Ein Gedicht und eine Rose dazu. Das wärmt einem doch das Herz, wenn man durch die kalte Bahnhofsunterführung nach Hause eilt.
Kommt mir grad in den Sinn: Morgen ist Hochsigstag. Ob Theres sich freuen würde über ein Gedicht und eine Rose? Oder soll ich ein kleines Knoblauch-Chili-Cordon-bleu für sie machen? Das normale ist ihr ja immer zu gross, wenn wir auswärts essen. Vielleicht fände sie das herzig, wenn ihr Mann ihr extra ein kleineres Cordon bleu macht? Nach all den Jahren. Vielleicht umarmt sie mich dann sogar?
Hobla, jetzt bin ich es, den postwendend eine solche Traurigkeit ereilt.
Waldidaher! Chomm, jetzt gömmer.
(im Davongehen) Warum habe ich mich damals eigentlich nicht durchgesetzt und dich Rex getauft? Oder Lafitte? Oder wenigstens Götz! Götz wäre ein guter Name für dich. Das frage ich mich wohl bis in mein Grab. Oder sagen wir: Bis an dein Grab, Waldi.
# Christov Rolla ist eigentlich Musiker. Für diese Kolumne aber versetzt er sich in Menschen und an Orte. Manche bezeichnen dies als Rollenprosa, andere als redselige, ausschweifende und komplett herbeifabulierte Selbstgespräche. Wir nennen es: Bildbetrachtung. Mit freundlicher Unterstützung der Kulturförderung des Kantons Luzern.