Urner Technogeschichte
Zwischen Bergidylle und Punkattitüde: Seit den 90er-Jahren gibt es in der Abgeschiedenheit von Uri eine aktive Technoszene. Doch wie ist sie entstanden und wie konnte sie bis heute überleben? Eine Spurensuche durch die Urschweiz.
Yasmin Billeter — 07/13/21, 09:28 PM
In Uri wird manchmal auch die Natur zum Austragungsort von Raves. (Foto: Jan Huber/Unsplash)
Sommeranfang in Luzern. Mit dem Beat von Echo 106 im Ohr fahren wir in den Schwyzer Talkessel. Wie hat Techno seinen Weg in die Urschweiz gefunden und wie geht es ihm dort heute? Davon handelt dieser Trip.
Erster Halt Brunnen. Hausbesuch bei Echo 106. Das sind Hansruedi und Bruno Schnüriger. Wir sitzen im Garten zwischen Spielhaus und Planschbecken. Das erste Demo der beiden Brüder landete 2010 bei Mathematics Recording in Chicago. Das Label aus der Stadt, die bei der Geburt von House und Acid House eine entscheidende Rolle spielte, wollte mit den Brüdern zusammenarbeiten. «Das war ein Glücksfall. Und eine brutal komfortable Situation», sagt Bruno. Techno-Platten aus Brunnen standen bald in den Regalen von Tokyo, New York oder Berlin. Ein kleiner internationaler Durchbruch.
Tokyo, New York, Brunnen: Die Platten der Brüder von Echo 106 sind in so mancher Weltmetropolen erhältlich.
Wer denkt, die beiden feierten fortan DJ-Exzesse, irrt. «Das Wichtigste war für uns immer im Studio alleine an neuen Beats zu tüfteln», sagt Hansruedi. Drogen? Fehlanzeige. Liveauftritte? Wenn’s sein muss. «Wir wollten doch nicht all unsere teuren Geräte mitschleppen», erklären sie und lachen.
Ob mit Blockflöte und Suppenpfanne, als Teenie-Punkband oder später mit Papas Synthie – «Wir haben immer physische Geräte genutzt, um Klang zu erzeugen.» Der Übergang zur elektronischen Musik Anfang der Nullerjahre war fliessend. Zu dieser Zeit organisierten sie mit Freunden «TEK.NOW!», eine Partyreihe im Schwyzer Kulturzentrum Himmel.
«Wir kannten niemanden, mit dem wir uns hätten austauschen können.»
Bruno Schnüriger, Echo 106
Über den legendären DJ Pjerre entdeckten sie schliesslich Chicago House und Acid House. «Das klang nachvollziehbar. Das wollten wir auch versuchen.» Kurz darauf kaufte Hansruedi eine TB-303 – ein analoger Synthesizer, der den Klang von Acid House entscheidend mitgeprägt hat. Heute gilt das Gerät als Rarität, Hansruedi erstand es damals noch via Kleinanzeigen in einer Musikzeitschrift. Es folgten Echogeräte, Drumcomputer, ein Album, fünf EPs, eine gute Handvoll Tracks auf diversen Compilations und 2015 das Kultur-Stipendium in New York.
Echo 106 waren nie Teil einer lokalen Techno-Szene. «Wir kannten niemanden, mit dem wir uns hätten austauschen können», sagt Bruno. «Klar gab es Leute in der Urschweiz, die sich schon vor uns für Techno interessierten», sagen die beiden Männer um die 40. «Die haben aber nicht produziert oder wir wissen nichts davon.»
Wer waren diese Leute? Um zu verstehen, wie Techno seinen Weg als traditionell urbane Musik in die Urschweiz gefunden hat, muss man in die 90er-Jahre schwenken, als die Techno-Welle die Schweiz erfasste.
Sebastian Herzog aus Altdorf ist 49 Jahre alt und «lebenslanges Mitglied» des Techno-Kollektivs Labor Productions. 1998 gründete er zusammen mit vier Freunden diesen Verein zur Förderung elektronischer Musik im Kanton Uri. Auch Philipp Gisler war dabei. Er sagt: «In Brunnen gab es schon früh eine Szene. In einem unterirdischen Bunker namens Crazy oder im Restaurant Falken.»
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Sie organisierten alle zuvor schon kleine Partys, an denen elektronische Musik lief. «Aber wenn man heute zurückschaut», sagt Sebastian, «war die Gründung von Labor Productions 1998 der offizielle Anfang.»
Der erste Urner Rave war ein Flop, alles danach sei legendär gewesen. Die Jugend im Schwyzer Talkessel war bereit für die Musik ohne Worte. «Es gab Partys im Naturschutzgebiet, auf Brachen und in den Bauen-Löchern. Das sind Tunnels, wo wir die ganze Nacht durchgebrettert haben», sagt Sebastian.
«Die Nächte waren lang und da sich alle kannten, haben wir zueinander geschaut.»
Philipp Gisler, Labor Productions
Philipp erinnert sich: «Die Szene war klein, aber echt. Die Leute wollten tanzen und liebten die Musik. Die Nächte waren lang und da sich alle kannten, haben wir zueinander geschaut. Es war wie eine grosse Familie.»
Es war die Zeit, als Raver tanzten, als würden sie mit den Händen fortlaufend Schachteln bauen. Deswegen hiess ihr erstes Lokal in Flüelen «Schachtelbau». Später wurde daraus die Box – ein zweckentfremdeter Proberaum, wo bis heute Technobeats dröhnen.
Ab 1997 war Uri an der Street Parade in Zürich vertreten - mit dem Lovemobil von Labor Productions.
Mit Labor Productions und dem Tieflader von Philipp Gislers Onkel ging's 1997 nach Zürich an die Street Parade. «Das war ein Ding, damals noch sehr bunt und flippig», sagt Philipp. Die nächsten zehn Jahre war das Technokollektiv aus dem Bauernkanton an den Street Parades vertreten, einmal sogar mit dem grössten Lovemobile der Parade – 70'000 Franken hat das gekostet. Um die Wagen zu finanzieren, wurde das Lakeside Festival gegründet. Sebastian Herzog sagt: «Es wurden Banden geknüpft, die zum Teil bis heute halten.»
Zurück an den Geräten
Zurück in den Garten von Echo106, die sich ganz anders entwickelt haben. «Unser Tor zur Welt war das Internet», sagt Hansruedi. Das sei auch ein Vorteil: «Wenn du dir alle Einflüsse selbst zuführst, ist das ein puristischerer Weg», sind sich die beiden einig.
Vor vier Jahren wurde Hansruedi Vater und Bruno Götti von der vierjährigen Zelda. Sie zeigt uns stolz den alten Furby ihrer Mutter. Zusammen gehen wir ins Studio im Keller des Chalets. Es ist vollgepackt mit den unterschiedlichsten Musikgeräten und Platten. Seit kurzem machen die Brüder nach vierjähriger Pause wieder Musik. «Ganz ohne Druck. Das Wichtigste ist, dass wir Spass haben.»
Legendärer Namensgeber: Die Ziffer in ihrem Namen haben Echo 106 von einem altbekannten Synthesizer aus dem Hause Roland entwendet.
Zum Schluss fällt ihnen doch noch ein Anknüpfungspunkt an die hiesige Szene ein: «Das Sweet Mountain Festival!» Das elektronische Festival fand 2017 und 2018 auf der Sonnenterasse von Uri statt, umgeben von idyllischer Bergwelt.
Die Wiederbelebung
Das Festival auf 1250 Meter über Meer wurde vom ersten Urner Technolabel 12 o’Clock organisiert. Dieses wurde 2014 vom DJ- und Produzenten-Duo FS Bart gegründet. Sie stehen als nächstes auf unserem Reiseplan. Bruno und Hansruedi Schnüriger geben uns ein paar Informationen mit auf den Weg. «FS Bart kamen auf, als wir Pause machten.» Sie seien auf einer etwas anderen Schiene Techno unterwegs.
Wir verlassen Brunnen. Auf geht’s zum drückend heissen Gleis 3. Nächster Halt Schattdorf, Industriegebiet. Überhaupt nicht schattig, sondern Hitze, die wie harter Sound auf die Strasse brettert. Es riecht nach Autowerkstatt und Motorenöl. Sandro Zgraggen holt uns am Tor zum Nirgendwo ab. Der 31-jährige führt uns in ihr Studio und Labelsitz – ein grosser Raum, den sie sich mit einer Indie-Rock-Band teilen.
Im Schattdorfer Industriegebiet stehen die Maschinen von FS Bart.
Hier ist es das ganze Jahr durch angenehme 20 Grad. «Ich habe keine Mühe bei schönem Wetter im Studio zu sitzen», sagt Sandro. Fabian Bissig sei da mehr der Naturmensch. Zusammen sind sie FS Bart. Keine Brüder, dafür beide mit weissen Adidas-Socken und Bart.
Angefangen hat ihre Geschichte auf einem Maturaball, an dem beide auflegten. Später waren sie in Zürcher Clubs unterwegs und irgendwann in Berlin. Dort haben sie den Sound berüchtigter Clubs wie dem Berghain oder dem Tresor mitgenommen. Danach standen sie als «The Bärtigen Soundsystem» auf der Bühne und waren für das weitere Aufleben der Technomusik in der Urschweiz verantwortlich.
«Der Schuppen war übervoll und beim Vermieter kippten die Weingläser von den Regalen.»
Philipp Gisler von Labor Productions über einen Auftritt von FS Bart
Ihr Label 12 o’Clock wurde zum Dreh- und Angelpunkt der lokalen Szene. Auch Philipp Gisler von Labor Productions ist inzwischen dabei. Über FS Bart sagt er: «Mit ihren stampfenden Beats brachen sie alle Regeln.» Er erinnert sich an Partynächte im Kellertheater Vogelsang in Altdorf. «Der Schuppen war übervoll und beim Vermieter kippten die Weingläser von den Regalen.» Darauf folgten Partys mit über 1000 Leuten in der Erstfeldhalle, jüngeres Publikum und Releases über die Landesgrenze hinaus.
Alles für die Subkultur
Sandro dreht sich eine Zigarette nach der andern. Er erzählt, wie sie 2010 die alte Zwyer Schmitte in Altdorf gemietet und Party gemacht haben, wo es vorher keine Party gab. Die Szene sei organisch gewachsen: Neben Proberäumen haben sich einheimische Künstler, DJs und Produzenten im Zwyerhaus Studios eingerichtet.
Der Platz in der alten Schmitte wurde knapp. Deswegen haben FS Bart ihr Studio denn auch in Schattdorf eingerichtet. Ihr Radius wurde grösser: Vor dem Lockdown spielten sie regelmässig in der Luzerner Kegelbahn oder in Brunnen. Ihr Sound ist reduziert, rough und wie für verschwitzte Tanznächte gemacht. «Wir spielen immer den letzten Slot: ab 4 bis in den Morgen.»
Aus der Ferne gesehen, wirkt es, als ob Techno als Subkultur in Uri stärker gepflegt wird als in der Stadt, wo elektronische Musik für viele bloss Ausgangsunterhaltung ist. Stimmt das so? Sandro sagt: «Vielleicht ist es so, dass du es selbst machen musst, um eine Subkultur zu leben. Do it Yourself. Punkkultur. In einer Stadt ist das Angebot übersättigt. Hier bist du eher gezwungen, selbst etwas auf die Beine zu stellen.»
«Wir wollen nicht der Bligg der Technoszene werden.»
FS Bart
Ihre Musik bieten sie auf digitalen Kanälen an. Die Aufnahmen, die Produktion und das Cover machen sie selbst. Manchmal lässt Sandro sich beim Produzieren von Bergen und Wäldern inspirieren. Zu viel Folklore mögen sie aber nicht: Die Anfrage aus «Zoge am Boge» – der inoffiziellen Hymne des Kantons Uris – eine Technovariante zu machen, lehnten sie ab. «Wir wollen nicht der Bligg der Technoszene werden.»
Gegen das Geld
Diese antikommerzielle Haltung hat bei 12 o’Clock Tradition. Labelmitglied Luca Gisler alias Loui Xiv fühlt sich im Untergrund besonders wohl. Wir treffen ihn bei unserem letzten Halt: dem Kaffee Kind in Luzern. Luca ist 28, Sozialarbeiter. Sein Erkennungszeichen, eine Krücke. Auf die Frage, ob er das Bein gebrochen habe, erklärt er, dass er mit 14 Jahren an Krebs erkrankte und seitdem zwei ungleich lange Beine hat. Er ist froh, wenn ihn jemand direkt darauf anspricht. Manche Leute würden nie fragen.
Kultur statt Geld: Luca Gisler aka Loui Xiv lehnt auch mal Gig-Angebote ab, wenn der Rahmen nicht stimmt.
Luca hat Prinzipien. Von diesen rückt er nicht ab. Auch dann nicht, wenn es um Geld geht. Auf DJ-Auftritte im Luzerner Rok oder in der Tellenbar in Altdorf verzichtet er beispielsweise. «Dort geht’s um den Stutz und nicht um die Kultur.» Dadurch habe er weniger Gigs, könne aber mit gutem Gewissen ins Bett.
«Für mich ist Musik machen, der Moment wo alles andere weg ist», sagt Luca. Der Sound erdet ihn und lässt ihn fokussieren. Im «Isital» war er der Nachbar von Fabian von FS Bart. Die Bärtigen führten ihn in die Welt des Technos ein. Er zog mit, Partys waren für ihn aber nur sekundär. Viel mehr interessierte sich Luca für die Geschichte der Musik. Irgendwann fing er selbst an zu produzieren: «Ich mag das Haptische und nutze nur analoge Geräte», sagt Luca. «I ha gäre erdig organisch». Am besten gefällt ihm alter Techno: «Jeff Mills, Robert Hood – klassisches Minimalzeugs. Geiler Flow, roh, nicht überproduziert.»
«Wir mussten vieles selber aufbauen. Ich habe das geschätzt. Es hatte einen punkigen Touch.»
Luca Gisler, DJ und Produzent
Heute lebt Luca in Luzern. Die Jugend in der Abgeschiedenheit der Urschweiz habe ihn aber geprägt. «Wir mussten vieles selber aufbauen, wie etwa das Zwyerhaus. Ich habe das geschätzt. Es hatte einen punkigen Touch.» Im Zwyerhaus feiere mittlerweile die nächste Generation. Es habe sich einiges verändert, die Tätigkeiten der Hausbewohner*innen seien diverser geworden. Droht die ganze Szene zusammenzubrechen, wenn jemand wegzieht? «Ich glaube nicht», sagt Luca. «Die Szene basiert nicht nur auf Ihren Mitgliedern, sondern auch auf ihren Treffpunkten. Das Haus steht immer noch und wird, so hoffe ich, auch dieser Generation ihre Möglichkeiten bieten.»
Zurück zu den Wurzeln
Die Urner Gruppe verschmilzt derweil mit jener um die Luzerner Kegelbahn. Luca legt dort oft auf und betreibt eine Partyreihe mit einem neuem Kollektiv. «Wir möchten einen Gegenstrom bilden.» Die persönliche Ebene ist wichtig, wie auch das Thema Gleichstellung. «Techno war immer ein Männer-Business», sagt Luca. «Das sollte es nicht sein.» Deswegen wollen sie bei jedem Anlass mindesten eine Frau buchen. Dies sei nur einer von vielen Lernprozessen, die in den Technoclubs nicht angestossen aber eingeübt werden.
«Man sollte wissen, dass Techno von farbigen Menschen stammt.»
Luca Gisler, DJ und Produzent
Rassismus ist ein anderer Punkt: «Man sollte wissen, dass Techno von farbigen Menschen stammt», sagt Luca. «Dieser Aspekt geht verloren, wenn man sich die Türpolitik von Hive und Rok anschaut.» Doch das Partyvolk habe dazugelernt und reagiere achtsamer, zumindest in den guten Clubs.
Luca gehört zur jüngeren Generation der Urner Technoszene. Seine Vorgänger sind ihm aber präsent. Er kennt den Sound von Echo 106 und die Leute von Labor Productions. «Sie alle haben Vorarbeit geleistet und uns in der Urschweiz einen fruchtbaren Boden hinterlassen», sagt Luca. Wir verlassen das Kaffee Kind und finden: Es riecht nach Beton und Sommergewitter.