Landei versus Stadthuhn
Erinnerungen sind eine Schatzkiste, deren Deckel sich leicht öffnen lässt. Zum Beispiel mit einem krähenden Hahn oder einem Muezzin.
Christine Weber — 03/23/21, 02:32 PM
Es ist ruhig, Morgendämmerung. Ein Hahn kräht. Dann ist es wieder still. Der Hahn kräht erneut, irgendwo in der Nähe. In unregelmässigen Intervallen dringt der an- und abschwellende Sound zu mir, die ich mit geschlossenen Augen im Bett vor mich hindöse und abdrifte. Die Luft ist schwül, der Tag wird heiss werden und die Kleider klatschnass an der Haut kleben, sobald man nach draussen geht. Aber noch streicht ein Lüftchen durch das offene Fenster, noch warten die lärmigen Strassen und erst langsam erwacht das Leben. Das Krähen wird vielstimmiger, die Hähne stacheln einander an, ihre Rufe steigern sich zu einem unruhigen Staccato. Erste Menschenstimmen mischen sich darunter, Strassenverkäufer rufen in fremdem Singsang, Töpfe scheppern, ein helles Lachen, ein hupendes Auto. Der Duft von Curry und Jasmin dringt ins Zimmer, eine Veloglocke bimmelt.
Wieder kräht ein Hahn, ganz nahe diesmal. Ich öffne die Augen, blinzle die Erinnerung weg und bin da, wo ich bin: Im hintersten Obwalden. Es riecht weder nach Curry, noch tingelt ein Strassenverkäufer vorbei, es gibt keine scheppernden Töpfe und kein helles Lachen von geschäftigen Frauen. Aber den Hahn gibt’s. Und wenn er kräht, katapultiert er mich nach
Bangkok oder Saigon, nach Burma oder Goa. Ein simples Krähen beamt mich nach Asien – wie praktisch!
Auf den Boden der obwaldschen Realität zurückgeholt werde ich mit Sounds, die nicht minder exotisch sind, zumindest für Stadtleute: Hinter dem Haus geht die Felswand steil ab gegen den Berg. Je nach Jahreszeit rieselt oder donnert von dort her der Wasserfall, im Winter krachen Eiszapfen auf Steinbrocken. An Sommerabenden mischen sich häufig Alphorn-Klänge mit dem Wasserrauschen; ein Felsvorsprung dient als Freiluftbühne für hiesige Bläser. Die aufregendsten Soundgewitter gibt es jedoch, wenn der Föhn zuschlägt und durch die Nacht faucht. Mit Getöse rüttelt er an Fensterläden und Türen, pfeift um die Ecken und heult über die Dächer. Er fegt Ziegel von Häusern, entwurzelt Bäume und schleudert alles, was nicht niet- und nagelfest ist, herum. Das ist Trance, Hardrock und Punk in einem.
Und natürlich bimmeln omnipräsent die Glocken: Am Hals der Kühe oder von der Kirche her, die für ein so kleines Dorf etwas gar überdimensioniert geraten ist. Fehlt nur noch, dass nebst diesen Klängen auch noch der Ruf eines Muezzins durch das Tal schallt und schwupps, werde ich nicht nur nach Asien, sondern auch nach Marokko gebeamt. Dann schlendere ich durch die Kasbah von Marrakesch, schlürfe Tee aus kleinen Gläsern und bestaune die abendliche Kupferstunde. Das funktioniert auch von Obwalden aus – aber eben: Dazu brauche ich den scheppernden Ruf eines Muezzins. Her damit!
Meine Freundin aus Luzern sagt dazu: Ein Minarett im hintersten Teil von Obwalden? Da kräht jetzt wirklich kein Hahn danach!
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