Nikola Gvozdic rezensiert Zentralschweizer Kulturveranstaltungen. Alle Veranstaltungen sind abgesagt. Das macht Menschen einsam. Rezensentinnen und Rezensenten waren schon vorher einsam.
Nikola Gvozdic — 10/27/20, 08:43 PM
Ganz allein steht er da. Er ist einer der Wenigen, der allein gekommen ist. Er spricht kaum mit jemandem. Vielleicht trinkt er ein Bier an der Bar oder wechselt in den Pausen einige Worte. Ein kleiner Austausch, ein Handschlag. Manchmal fragt er sich, ob Alleinsein in diesem Kontext auffällt. Dann verwirft er die Frage wieder. Seine Aufmerksamkeit wird anderweitig benötigt. Er muss genauer hinsehen als die Anderen. Denn er muss präzise in Worte fassen, was später vorbei ist. Dieser Mensch ist ein Rezensent, der auf der Tribüne sitzt, vor einer Bühne steht, in einer Ausstellung seine Kreise zieht. Er ist der Beobachter an einem Ort, an dem das Beobachten isoliert. Was an diesen Orten vor allem zählt, ist das Erfahren. Das Publikum beobachtet auch, aber es erfährt vor allem.
Kunst und Transzendenz* gehen oft Hand in Hand. Ein Kunstwerk sollte bei den Betrachtenden etwas auslösen: Es kann ein Gedanke sein – das ist eine mögliche Facette und sicher nicht die am meisten verbreitete. Das Denken, das angestrengte Denken gehört zu anderen Sphären. Kunst packt, Kunst reisst mit, Kunst erinnert, genauso wie Kunst vergessen lässt, Kunst reisst die Betrachtenden aus dem Alltag und presst sie in den Moment hinein. Man wird vom Werk und Wirken festgehalten. Die ganze Aufmerksamkeit auf die Bühne gerichtet, das Bild, das Lied. Und dabei ist man nicht allein: Alle anderen sind auch deswegen hier, sie wollen von etwas mitgenommen werden. Vielleicht reden sie sich ein, dass es sich nur um Unterhaltung handle, dass es nur eine Ablenkung sei, aber es ist mehr als das. Es hat seine Gründe, weshalb Clubs immer voll sind und warum man nach Gesellschaft fragt, bevor man Konzertkarten kauft. Es geht um Gemeinschaft, um Loslösung aus der Zwangsjacke des Alltags. Es ist die Erkenntnis, dass wir uns alle viel näher sind, als wir zugeben. Vielleicht auch näher, als wir überhaupt ahnen. Kunst kann diese Trennung überwinden.
Kunst verbindet
In ritualisierten Handlungen findet man Halt. Sie sind so tief verankert, dass sie nicht hinterfragt werden. Klatschen, Pfeifen, Lachen (wenn gelacht wird), Bewegung, Winken, Fuchteln, die Augen schliessen dürfen. Nie kann man die Augen in einer Menschenmasse so beruhigt schliessen wie an einem Konzert. Es liegt viel Kraft in diesem Gefühl. Das Wissen, dass man, zumindest mit den Menschen, die ebenfalls hier sind, etwas teilt. Eine Intimität der Masse. Eine kollektive Aufmerksamkeit. Eine Zugehörigkeit. Trance. Wir alle sind aus demselben Grund hier, wir alle wollen etwas spüren. Kunst steuert die Masse, gibt der Menschenmenge einen Grund, sich zu finden. Sie ist mehr als bloss die Steuerfrau der Masse, sie ist gleichzeitig und vorrangig ihre Schöpferin.
An Veranstaltungen werden die Einzelnen verbunden und vermischt, Bewusstsein wird eins. Hier muss man nicht mehr Individuum sein, es ist dem Erlebnis abträglich. Das gibt Kraft und Sicherheit. Gemeinsamkeit bereichert. Man wird von der Pflicht befreit, ein Einzelmensch zu sein und darf zum Teil werden. Teil einer Gruppe. Es ist wenig erstaunlich, dass Trommeln auf etwas Tiefes in unserem Instinkt einwirken, sind sie doch die Erinnerung an viele Füsse im gemeinsamen Schritt. Sie geben das Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit. Hier kann man einfach nur sein, die Hände mit den anderen zusammen in die Luft recken, kann gemeinsam einer Gruppe Menschen beim Spielen zusehen, und dem, was aus ihrem Spiel entsteht. Das kann Kunst.
Kritik vereinsamt
Und trotzdem steht der rezensierende Mensch alleine. Er stolpert in den Leerzeiten unbeholfen herum. Er ist aus einem anderen Grund hier als das Publikum. Er hat Hintergedanken. So ist er zwar ein Teil der Veranstaltung, gehört aber nicht richtig dazu. Die Augen sind unruhiger, sie wandern umher, huschen über Gesichter, Bewegungen, Regungen, Körperhaltungen und die Blicke der anderen. Seine Ohren sind offen, konzentrieren sich auf das, was er hört, aufmerksamer, als es der reine Genuss fordern würde. Er darf sich nicht auf diesen Sog einlassen, er darf sich nicht vom Versprechen nach Gemeinschaft einlullen lassen. Er muss die Kunst bewerten. Er muss sich genau ansehen, was gemacht wird, wie gut es gemacht wird. Er muss dem Erlebnis widerstehen.
Der Rezensent weiss, dass das Werk nicht für ihn gedacht ist. Kritiker machen sich zu viele Gedanken, abstrahieren, suchen nach Ungereimtheiten, denn nur vom Erlebnis darf man laut der Redaktion nicht berichten. Was sagt der Kopf zu dieser Sache, die tiefer liegt? Der Rezensent ist immer eine Stufe von der Kunst entfernt, sein Verstand muss immer dazwischen stehen. Isoliert betrachtet er das Spiel. Und dann versucht er zu erklären, was daran gut war. Er muss sich weigern, zum Teil der Masse zu werden, weil ansonsten das Urteil verwässert wird, verblendet vom Erlebnis.
Es ist nicht dasselbe, ein Kunstwerk zu betrachten und über ein Kunstwerk zu berichten. Was erzählt wird, ist das, was übrigbleibt. In jeder Kritik liegt eine Kälte. Aber paradoxerweise schuldet es die Kritik der Kunst. Denn diese soll ernst genommen werden, ehrlich betrachtet, eingeordnet und studiert. Sie soll auch jenen näher gebracht werden, die sie noch nicht gesehen oder gehört haben. Es besteht der Anspruch, zu zeigen, wie viel Schöpfungskraft in der Gesellschaft vorhanden ist. Die Rezensierenden lieben die Kunst in all ihren Formen, sonst würden sie nicht tun, was sie tun. Manchmal werden sie mitgerissen, manchmal vergessen sie, dass sie aufmerksam bleiben müssen, manchmal werden sie ein Teil vom Ganzen. Und trotzdem stehen sie als Kritiker am Ende immer abseits der eigentlichen Erfahrung. Alleine unter Vielen.
*jenseits der Erfahrung, des Gegenständlichen Liegendes
Als Kulturkritiker und Veranstaltungsrezensent streift Nikola Gvozdic durch das Zentralschweizer Nachtleben und berichtet von Konzerten, Theateraufführungen, Performances, Lesungen und anderen kulturellen Eskapaden. Mit einem Flair für Surreales, Experimentierfreudiges oder einfach nur Absurdes.