Landei versus Stadthuhn
Ein filmreifes Happyend ist gestrandet. Wie schön: Manche Probleme lösen sich ganz von selbst in Luft auf.
Christine Weber — 04/07/21, 04:00 AM
Liebeskitsch in Obwalden: Der Wohnort unserer Kolumnistin war gleichzeitig Drehort einer südkoreanischen TV-Serie. Foto: zvg
Als die Stadtleute unter den Einschränkungen ächzten, hatte ich bereits einen Erfahrungsvorsprung: Da, wo ich wohne, ist sozusagen immer Lockdown und entsprechend übte ich mich bereits ein halbes Jahr vor der Pandemie in Selbstisolation. Im hintersten Obwalden trifft man heute spontan in etwa so viele Leute an wie vorher: keine. Auch was Menschenansammlungen angeht, war bereits vor Corona tote Hose.
Es gibt keine Hotspots. Bis auf den Wasserfall und die Zentralbahn. Wegen Letzterer wurden noch vor wenigen Monaten erboste Leserinnenbriefe geschrieben, weil ganze Abteile für Touristengruppen reserviert waren. Die einheimischen Pendlerinnen mussten sich zwischen Nudel-Bechern und roten Wandersocken einpferchen, das sorgte für schlechte Stimmung. Aber eben: Heute sitze ich alleine im Zug und steige als Einzige aus.
Nur auf dem Weg durchs Dorf gibt es vereinzelt Überbleibsel aus normalen Zeiten: Schilder mit asiatischen Schriftzeichen. Die mehrfachen Ausrufezeichen lassen vermuten, dass «Kein Durchgang!!!» und «privat!!» draufsteht. Das hat allerdings im Leben vor Corona niemanden davon abgehalten, ausgerüstet mit Handystangen über Zäune zu klettern und sich auf der Blumenwiese oder im Heuhaufen in Foto-Pose zu werfen. Ausgestiegen an diesem Ort sind die Touristen wegen des Wasserfalls, der bei mir um die Ecke über die Felsen prasselt.
Weil es während des Hausumbaus noch kein Wasser gab, spülte ich jeweils den Dreck dort weg und legte mich nachher zum Trocknen auf die Steine. Bis im Sommer die Touristen anrauschten. Eine indische Männergruppe in Anzügen und mit Lackschuhen überraschte mich in flagranti. Kreischende Girls in Flipflops kletterten über mich hinweg. Eine arabische Gruppe packte auf der Wiese davor die Kochtöpfe aus und betete pünktlich gegen Mekka, während die uralte Nachbarin kopfschüttelnd an ihnen vorbeihumpelte. Zähneknirschend musste ich feststellen, dass der Wasserfall alles andere als meine persönliche Badewanne ist.
Kurz darauf folgte eine Hiobsbotschaft: Die letzte Folge von «Crash Landing on You» sei ausgestrahlt worden - das ist eine südkoreanische Kultserie in Bollywood-Manier, eine Liebesgeschichte in 16 Episoden. Diverse Medien vermeldeten, die asiatischen Fans seien begeistert und parat, sich vor Ort ein Bild zu machen. Und wo spielt das rührige Happyend?? Genau! Ich googelte und fand mein kleines Dorf, meinen Wasserfall bereits auf einschlägigen Seiten zu sehenswerten Filmlocations.
In Südkorea leben 52 Millionen Leute. Auch wenn sich nur ein Bruchteil davon für Happyends interessiert und sich jene in der Schweiz leisten kann. Mir schwant Böses, ich sehe den Wasserfall wortwörtlich überschwemmt. Und dann kam Corona. ZACK. Fertig. Aus. Keine Touristen mehr. Crash Landing, kein Happyend. Oder je nach Sichtweise: Happyend.
Meine Freundin aus der Stadt Luzern sagt dazu: Das Happyend wird bestimmt nachgeholt, in Luzern sowieso – fragt sich nur wie. Vielleicht hat man bezüglich Massentourismus dazugelernt. Aber vermutlich nicht.
Christine Weber hat sich nach über vier Jahrzehnten aus dem turbulenten Stadtleben verabschiedet und lebt seit einem Jahr dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen: Im hintersten Teil von Obwalden. In der Kolumne «Landei versus Stadthuhn» wirft sie einen (selbst)ironischen Blick auf die Klischees von urbanem Lifestyle und hinterwäldlerischer Verstocktheit. |