Gespräch unter Männern
«Mama, wo bist du in mir?» ist ein Stück zwischen Satire und Konfession, Selbstironie und Selbstbefragung. Ein Spiel mit Klischees und der Versuch, diesen zu entkommen. Reden wir.
Michel Rebosura — 05/25/21, 06:26 PM
Lion-Russell Baumann im kleinen Glitzernden. (Bild: Fetter Vetter & Oma Hommage)
The most beautiful part
of your body is wherever
your mother's shadow falls.
Aus dem Dunkeln heraus blicke ich auf die beleuchtete Bühne des Luzerner Winkels. Damiàn Dlaboha und Béla Rothenbühler sitzen in ihren Stühlen und schauen Lion-Russel Baumann zu, wie er seinen Text rezitiert. Es wird an Sätzen gefeilt, am Duktus, am Gestus. Es wird ausprobiert, herausgestrichen, eingefügt. Es geht um Fallhöhen, Intensitäten. Es sind Endproben.
Danach sitze ich mit «der männlichen Hälfte» von Fetter Vetter & Oma Hommage im Kreis. Nicht ums Feuer wie im Männerseminar in der wilden Natur, aber eine Männerrunde ist es allemal. Wir sprechen über Männlichkeit, inwiefern das Theater diese zu dekonstruieren vermag und was das Ganze mit der «Mama in mir» zu tun hat.
Über Männer
Meine erste Frage in die Männerrunde ist: «Wer oder was hat euch in eurer Männlichkeit am stärksten geprägt?»
Idole der Pop-Kultur scheinen wichtiger als reale Menschen im familiären Umfeld.
«Wer oder was hat euch in eurer eigenen Männlichkeit am stärksten verunsichert?» frage ich weiter.
Nächste Frage: «Welche stereotyp männliche Eigenschaft nervt euch am meisten an euch selbst?»
Komplementär erscheinen die Antworten auf die nächste Frage: «Welche stereotyp weibliche Eigenschaft erkennt ihr bei euch selbst? Oder welche hättet ihr gerne?»
Damit haben wir gleich einiges zur hegemonialen Männlichkeit zusammen: Autonomie und Autarkie, nicht abhängig und nicht auf Hilfe angewiesen sein zu wollen. Besonnenheit und Coolness bis zur Gefühlskälte, die das Sprechen über Gefühle erschwert. Stärke, die in Rivalitäten und Wettbewerben bewiesen werden muss, im Dominanz- und Führungsanspruch innerhalb einer Hierarchie kulminiert und Verletzlichkeit verbietet.
Aber sind das nicht alles Klischees? Es mag von Aussen so scheinen. Doch ist die Erkenntnis, dass trotz aller Kritik an und allem Spiel mit Klischees, die Versuche, diesen zu entkommen, immer ein Stück weit vergeblich sind, der Beginn für wirkliche Veränderungen. Die Frage bleibt: Was tun? Wie aus diesem Gefängnis ausbrechen?
Gegen Männer
Das zeitgenössische Theater setzt sich explizit mit Männlichkeiten auseinander. Aktuelle Beispiele sind «In my room» (2020) von Falk Richter, das den Spuren der Väter nachgeht. Complex of «Tensions» (2020) von Jasco Viefhues, das queere, schwarze Männlichkeiten erkundet. Oder jüngst Julia Hännis «Don Juan» (2021), in der eine Frau Männlichkeiten bearbeitet.
Unter Männern über Männlichkeit zu sprechen, heisst nicht gegen Männlichkeit zu sprechen, sondern für Männlichkeiten. Und dass nicht nur über sie gesprochen wird, sondern auch mit ihnen experimentiert. Mit schonungsloser Ehrlichkeit, aber auch offener Verletzlichkeit über intime Erfahrungen gesprochen wird. Am Ende steht die öffentliche Inszenierung, in der sich Autobiographie und Autofiktion vermischen.
Das Theater kann als Ort der Dekonstruktion von Geschlechternormen dienen – durch Parodie und Drag zum Beispiel. Dieses Spiel mit Klischees – wie es auch in «Mama, wo bist du in mir?» praktiziert wird – eröffnet den Raum für das Erkennen, Entlernen und Neulernen.
So wird im Stück auch kritisch reflektiert, wie bestehende Machtverhältnisse reproduziert werden. Die «Betroffenen-Perspektive» ist zugleich «Täter-Perspektive», wie es zugespitzt heisst. Etwas, das durch die aktuell bekannt gewordenen Diskriminierungs- und Missbrauchsfälle an Theaterhäusern noch dringlicher erscheint.
(Bild: Fetter Vetter & Oma Hommage)
O Mother, Where Art Thou?
Abwesend anwesend bleibt im Stück stets die «Mama». Denn Ausgangspunkt war Falk Richters Stück und die Frage: «Warum immer nur Väter, Väter, Väter?». Mit ihrer Suche nach der verlorenen Mutter hoffen Fetter Vetter & Oma Hommage auch positiv besetzte Männlichkeiten zu finden. Im Stück selbst, aber auch online, tauchen die – anonymisierten – Interviews mit ihren Müttern auf. Mit Fragen wie:
«Ein schwieriger Prozess», an dessen Ende die Überzeugung steht: «Die Welt wäre eine bessere, wenn Menschen mehr mit ihren Müttern sprechen würden».
Eine Hoffnung, die gegenwärtig Not tut. Denn die Suche nach positiven Männlichkeiten findet in einem neoliberalen Kapitalismus statt. Einer (selbst-)ausbeuterischen Wettbewerb- und Leistungsgesellschaft, die gerade in der Krise die Sehnsucht nach dem «starken Mann» – Putin, Trump, Orbán, Erdogan – hervorruft.
«Ist die Männlichkeit nun am Ende? Vielleicht. Sicher ist: Der Singular ist am Ende.»
Das fortgeführte Gespräch mit der «Mama» und die Wiedererinnerung und Verinnerlichung des sogenannt «Weiblichen» verspricht keine Versöhnung, kein erlösendes Heil. Und besteht nicht die Gefahr einer umgekehrten Idealisierung? Dass das Klischee des abwesenden, bösen Vaters nur durch das Klischee der anwesenden, lieben Mutter gespiegelt wird? Und ist die Reduktion der ursächlichen sozialen Strukturen auf «Mama-Papa» nicht ein Psychologismus, der die Verantwortung ganz auf das Individuum abschiebt?
Offene Fragen. Doch die Macher sind sich bewusst, dass ihr Stück nur einen Türspalt zu einem unendlich grossen Problemfeld auftut. Und ihr Versuch, den Klischees zu entkommen, bis zu einem gewissen Grad vergeblich bleibt.
Ist die Männlichkeit nun am Ende? Vielleicht. Sicher ist: Der Singular ist am Ende. Was zugleich der Anfang ist für den radikalen Pluralismus.