Bildbetrachtung
Es heisst nicht ohne Grund «Gepflegte Erscheinung» in den Stellenanzeigen, und dass dazu gewisse Vorzüge in der Physiognomie und eine dezente körperliche Knackigkeit gehören, sollte ja wohl jedem einleuchten.
Christov Rolla — 06/03/21, 10:24 PM
Heute habe ich schon wieder diesen verrückten Traum gehabt. Wir tanzen zu dritt durch den kleinen Salon, eine Polonaise, aber sehr langsam, fast in Zeitlupe: Vorn Herr Hidalgo, der uns den Garten macht, dann ich, die Hände auf seinen erstaunlich spitzigen Schultern, und hinter mir der Keramikleopard aus dem Entrée, lebendig geworden, zwar immer noch aus Porzellan, aber mit ganz weichen Tatzen auf meinen Schultern; fast massiert er mich, und definitiv lässt er keinen Raum für den heiligen Geist zwischen uns, nein, er schmiegt sich regelrecht an mich, wie er so auf den Hinterbeinen tanzend hinter mir den Abschluss der kleinen Polonaise bildet, und ich sage zu Herrn Hidalgo «Ich glaube, der Leopard will mich bümseln», obwohl ich das ausserhalb von Träumen nie so nennen würde, und dann flüstert mir der Leopard ins Ohr «Wo ist eigentlich Urs?», und ich erschrecke und renne los, durch den kleinen Salon, durch den grossen Salon, durch das Entrée, über die Freitreppe, durch den vorderen Garten, an den Garagen vorbei, wo plötzlich der Leopard und Herr Hidalgo auf dem Vordach höckeln, mir zuwinken und «Hopp Schwiiz» rufen, ich aber eile weiter, über den Wendeplatz, dann scharf links, am barocken Brunnen und an den alten Weinstöcken vorbei und durch eine kleine Zedernallee, obwohl in Wirklichkeit unser Grundstück nach dem Wendeplatz endet und es hier weit und breit keine barocken Brunnen, Weinstöcke und Zedern gibt, und ich renne und renne und renne, bis ich Urs schliesslich bei der alten Sternwarte finde, wo er Frau Hidalgo gerade die Ringe des Saturn zeigt. Dann erwache ich, und Urs liegt leise schnarchend an meiner Seite.
Ich habe diesen Traum schon oft gehabt. Er geht immer genau gleich. Aber ich muss gestehen, dass er mich von Mal zu Mal unruhiger zurücklässt. Und auch ein bisschen wuschiger, wenn ich ehrlich bin.
Wenn Manuel plötzlich Pölsterchen entwickeln würde, müsste ich davon ausgehen, dass er seinen Job vernachlässigt. Und dann wäre er aber zack wieder auf dem Arbeitsamt.
Als ich Sibylle nach der Elbfried-Vernissage zum ersten Mal davon erzählte, fragte sie, ob der Traum vielleicht auf eine gewisse Unzufriedenheit mit Urs hinsichtlich seiner Perfomance beim Erfüllen der ehelichen Pflichten hindeute – so gesehen könne der Leopard nämlich für eine gewisse raubkatzenhafte, aber nunmehr vermisste Spannkraft und Ausdauer stehen. Oder Herr Hidalgo für ein heimliches Bedürfnis nach etwas Abwechslung.
Beides habe ich entschieden von mir gewiesen! Bei Urs ist alles fit im Schritt, wie Sibylle es nach dem zweiten Cüpli ausdrücken würde. Diesbezüglich habe ich nicht die geringsten Beanstandungen an die Adresse des Hausherrn, liebe Sibylle! Und Herr Hidalgo? Gewiss, er ist von durchaus schmackhafter Statur. Alles andere wäre aber auch sehr bedenklich! Denn erstens ist uns wichtig, dass unsere Hausangestellten auch optisch eine Gattung machen – schliesslich sind sie die Visitenkarte des Hauses. Es heisst nicht ohne Grund «Gepflegte Erscheinung» in den Stellenanzeigen, und dass dazu gewisse Vorzüge in der Physiognomie und eine dezente körperliche Knackigkeit gehören, sollte ja wohl jedem einleuchten. Romy hat jedenfalls die klare Anweisung, das Vorsortieren der Bewerbungen auch nach optischen Gesichtspunkten vorzunehmen, und ich schäme mich nicht, das zuzugeben.
Zweitens formt und kräftigt das Arbeiten in den Hecken und an den Rosenstöcken den Körper wie von selber. Wenn Manuel – ich nenne ihn nur im Traum Herr Hidalgo, ansonsten ziehen wir beim Personal das Siezen mit Vornamen vor – wenn also Manuel plötzlich Pölsterchen entwickeln würde, müsste ich davon ausgehen, dass er seinen Job vernachlässigt. Und dann wäre er aber zack wieder auf dem Arbeitsamt. Da sind Urs und ich nicht zimperlich!
Anyway: Selbstverständlich ist er Honig für die Augen. Aber, und das ist ein grosses Aber, liebe Sibylle: Es käme mir nicht im Traum in den Sinn, mit dem Personal familiär zu werden! Ich erwarte von den Angestellten Professionalität – und diese setze ich am allermeisten bei mir selber voraus. Das bedeutet: Freundlichkeit, aber mit souveräner Distanz. Anders geht es nicht, sonst ist der Respekt im Nu dahin. Und wie sagte schon Daddy: Ist der Respekt mal ruiniert, kannst du den Selbstrespekt auch gleich ins Brockenhaus geben.
Von mir aus könnte Urs ruhig über den Hag fressen, solange er zuhause seinen Mann steht.
Beim Abschliessen der Galerie hat mich Sibylle dann gefragt, ob der reale Gehalt vielleicht im hinteren Teil des Traums zu finden sei, also bei Urs und Frau Hidalgo in der alten Sternwarte. Da habe ich nur laut lachen müssen. Ich und eifersüchtig? Wegen Urs und Frau Hidalgo?
Erstens könnte Urs von mir aus ruhig über den Hag fressen, solange er zuhause seinen Mann steht. Das haben wir schon vor Jahren geklärt. Zweitens weiss er sehr genau, was er an mir hat, und was er an anderen Frauen – oder meinethalben auch an Männern, da bin ich total open-minded – nicht hat. Und drittens sind Manuel und seine Frau, wie heisst sie noch, Carmen halt oder Maria, jedenfalls sind die Hidalgos - - -
(Das Handy klingelt.)
Oh, entschuldige vielmals, Liebes, aber das ist Dr. Baltenspühl von der Fondation Emery, da muss ich unbedingt schnell rangehen. Mach es dir doch bequem. Ich bin gleich wieder da.
(Geht ins Bureau und schliesst die Türe.)
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# Christov Rolla ist eigentlich Musiker. Für diese Kolumne aber versetzt er sich in Menschen und an Orte. Manche bezeichnen dies als Rollenprosa, andere als redselige, ausschweifende und komplett herbeifabulierte Selbstgespräche. Wir nennen es: Bildbetrachtung. Mit freundlicher Unterstützung der Kulturförderung des Kantons Luzern.
(Bild: Christov Rolla)